Riley Das Mädchen im Licht
in diesem Moment sah.
In dem Moment, in dem er hinaufkletterte und sich an dem Felsen festhielt, sahen wir beide, jeder aus seinem eigenen Blickwinkel, den genauen Grund für das Leid, das die Geisterfrau in den letzten Jahrhunderten ertragen hatte.
Sie war eine Mörderin.
Eine Kindsmörderin.
Zumindest sagten das alle über sie.
Sie war fälschlicherweise des schlimmsten Verbrechens bezichtigt worden, das ein Mensch jemals begehen konnte – sie hatte angeblich ihre eigenen Kinder getötet.
Ihre drei geliebten Söhne, die ich sofort als die drei goldblonden Radiant Boys wiedererkannte, die ich soeben über die Brücke geschickt hatte.
Aber sie war unschuldig. Sie hatte diese Tat nicht begangen.
Sie war lediglich eine arme, verwitwete Mutter, die ihre Söhne allein aufziehen musste und gezwungen war, hier im Schloss Arbeit anzunehmen. Naiv und vertrauensselig hatte sie ihre Söhne in die Obhut einer falschen Person gegeben, während sie beschäftigt war.
Ein Stallknecht, der ihr versprochen hatte, ihre Söhne zum Fischen mitzunehmen, hatte, anstatt die Angel auszuwerfen, alle drei ertränkt. Er hatte alles gut vertuscht und einige Indizien gestreut, um sie in Verdacht zu bringen. Dann war er ebenso schnell von der Bildfläche verschwunden, wie er aufgetaucht war, und man hatte nie wieder etwas von ihm gesehen oder gehört.
Nachdem sie zum Tode verurteilt und hingerichtet worden war, warf sie einen Blick auf das schimmernde Licht, das zur Brücke führte, sah, wie sie glühte und schwankte und sie lockte. Die Brücke bot ihr Zuspruch, Liebe, Mitgefühl und Vergebung an – alles, was sie seit Langem nicht mehr bekommen hatte. Aber anstatt auf dieses Angebot einzugehen und den Trost anzunehmen, der ihr nur hier zuteilwerden würde, drehte sie sich um und ging weg. Getrieben von ihrem überwältigenden Schmerz und einem unüberwindlichen Schuldgefühl, kehrte sie an den Ort zurück, an dem man ihr die Nachricht überbracht hatte. Sie war davon überzeugt, dass sie eine große Schuld traf, weil sie so gutgläubig gewesen war, sich nicht ausreichend um ihre Kinder gekümmert hatte und nicht annähernd genug für deren Sicherheit gesorgt hatte.
An diesem Ort verweilte sie, hielt Ausschau nach ihnen und wartete auf ihre Rückkehr …
Und plötzlich, einfach so, wusste ich genau, wo wir beide uns befanden.
Wir waren nicht in ihrem Kopf , wie ich anfänglich geglaubt hatte. Wir saßen auch nicht in der Mitte der ersten Reihe und sahen uns die Erinnerungen an, die sie in ihrem gequälten, gebrochenen Herzen trug.
Nein.
Bodhi und ich befanden uns im dunkelsten Teil ihrer Seele .
An dem Ort, den sie vor langer Zeit vor der Welt versperrt hatte. An dem Ort, an den sie sich selbst verdammt hatte. Ein selbst auferlegtes Gefängnis für die letzten Jahrhunderte.
Und nun hatten wir uns zu ihr gesellt, ob uns das gefiel oder nicht.
Wir waren mit ihr eingesperrt.
Und ich hatte keine andere Wahl, als Bodhi dabei zuzusehen, wie er sich an den Felsen klammerte, seine Arme weit ausstreckte, seinen Kopf in den Nacken warf und seinen Mund öffnete, um all das in sich aufzunehmen.
Fest entschlossen, alles zu schlucken – jedes kleine bisschen des schrecklichen Kummers, der sie seit Hunderten von Jahren an die Erdebene gefesselt hatte.
Fest entschlossen, alles auf sich zu nehmen.
Es ihr zu entreißen und es sich anzueignen.
EINUNDZWANZIG
B odhi krümmte sich, seine Augen verdrehten sich nach hinten. Als ich auf ihn zuschwimmen wollte, hob er jedoch sofort warnend seine Hand und befahl mir, zu bleiben, wo ich war. Auf telepathischem Weg erinnerte er mich an das Versprechen, das ich ihm gegeben hatte, nämlich mich nicht von der Stelle zu rühren, so schlimm die Dinge auch werden würden.
Diese spezielle Aufgabe musste von ihm allein gelöst werden, und ich sollte daher nicht näher kommen oder mich in irgendeiner Weise einmischen.
Also wich ich zurück und beobachtete, wie Krämpfe seinen ganzen Körper schüttelten, und ich begriff, dass er nicht wirklich dagegen ankämpfte, wie ich zuerst gedacht hatte. Er kämpfte nicht gegen die Welle des überwältigenden Leids an, die ihn überrollte.
Er kämpfte gegen sie .
Gegen ihre Weigerung, sich davon zu befreien.
Ihm alles zu geben.
Ihre Bürde abzugeben und weiterzuziehen.
Offensichtlich hatte sie so lange an diesem Fenster gestanden, so viele Jahre geweint, gestöhnt und geklagt, und es hatte ihr das nicht mehr vorhandene Herz so sehr zerrissen, dass sie
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