Riley Jenson 02 - Wächterin des Mondes
für Jeans und Turnschuhe entschieden, denn eigentlich hatte ich Rock und Sandalen anziehen wollen. Dann hatte ich eine Art Vision gehabt, worüber ich gar nicht so glücklich war, und mich daraufhin etwas zünftiger gekleidet.
Ich wollte wirklich nicht noch eine übersinnliche Fähigkeit haben, vor allem wenn sie einfach auftauchte, wann es ihr passte. Aber dieselbe Intuition sagte mir, dass ich darauf ebenso wenig Einfluss hatte wie auf andere Bereiche meines Lebens. Ich entwickelte mich zu etwas mehr als einem Wervampir. Selbst meine brandneue Fähigkeit verriet mir allerdings nicht, zu was genau. Eins war jedenfalls sicher, Jack würde ich davon nichts erzählen. Nicht bis ich ganz sicher war, dass ich wirklich hellsehen konnte und es sich nicht nur um irgendeine mutierte Form meiner Angst handelte.
Das Restaurant lag auf der anderen Straßenseite. Ich zögerte, ließ den Blick prüfend über das alte viktorianische Gebäude gleiten und hielt in den Eckfenstern Ausschau nach meiner Beute. Es saß nur eine Frau allein am Tisch, und die hatte man am anderen Ende platziert.
Nachdem ich mich umgesehen und sichergestellt hatte, dass niemand in der Nähe war und ich auch nicht beobachtet wurde, hüllte ich mich in Schatten und bewegte mich in Richtung Küste. Die Straßenlaternen warfen gelbe Lichtkegel auf den verlassenen Bürgersteig. Die Scheinwerfer der vorüber fahrenden Autos durchschnitten die Dunkelheit und drohten die Schatten um mich herum aufzulösen. Ich versteckte meine Kleidung, veränderte meine Gestalt, wand mich aus den Schatten und schlängelte mich als Wolf durch die Zweige der Teebäume, bis ich mich auf gleicher Höhe mit dem Fenster befand, hinter dem die einsame Frau saß.
Sie war nichts Besonderes, die dunklen Haare trug sie in einem strengen Bob, ihre römische Nase unterstrich sie mit einem Goldring, ihr Kinn war breit und wirkte beinahe männlich. Auch ihre Hände, die sie vor sich auf dem Tisch gefaltet hatte, wirkten eher männlich. Der Mann, der Mrs. Hunt ersetzt hatte, war ebenfalls nicht gerade ein Bild weiblicher Vollkommenheit gewesen. War das ein Erkennungszeichen von Gestaltwandlern, die sich in fremde Männer wie Frauen verwandeln konnten?
Ich setzte mich auf die Hinterläufe und fragte mich, wie spät es war. Als ich den Wagen geparkt hatte, war es kurz vor acht gewesen. Für den Weg hierher hatte ich vermutlich fünf Minuten gebraucht. Machte die Frau an dem Tisch sich Sorgen, weil sich Roberta Whitby verspätete, ließ sie es sich zumindest noch nicht anmerken.
Der Wind bewegte die Zweige der Bäume, und winzige graugrüne Blätter regneten auf mich herab. Ich wollte sie gerade aus meinem Fell schütteln, als ich zwei Geräusche wahrnahm – einen leise knackenden Ast und Stoff, der an Blättern entlangstreifte.
Jemand schlich durch die Bäume auf mich zu.
Ich spitzte die Ohren und rührte mich nicht. In der Dunkelheit und zwischen den verschlungenen Ästen konnte man wahrscheinlich noch nicht einmal mein rotes Fell erkennen. Außerdem war derjenige, der da vorne heranschlich, ein Mensch oder zumindest in menschlicher Gestalt, und die meisten Menschen achteten nicht weiter auf Hunde, vor allem wenn sie sich ruhig verhielten und sie nicht bedrohten. Selbst wenn das vor mir ein Werwolf war, stand der Wind günstig und trug meinen Geruch nicht zu ihm hin, sondern in Richtung Ozean.
Merkwürdigerweise nahm ich keinen Geruch von dem Fremden wahr, sondern witterte nur das Meer und verschiedene Gerüche aus den umliegenden Restaurants und Geschäften sowie Abgase. Wenn er so nah war, dass ich ihn hörte, musste ich ihn doch auch riechen können. Es sei denn, er hatte keinen Geruch.
Bei dem Gedanken stellten sich meine Nackenhaare auf. Jeder besaß einen Geruch, es sei denn, man hatte ihn absichtlich überdeckt.
Ich nahm keine weiteren Geräusche wahr. Entweder war der Mann stehen geblieben oder verschwunden. Warum ich mir so sicher war, dass es sich um einen Mann handelte, wusste ich nicht. Wieso schlich er hier herum? Spionierte und beobachtete er wie ich bloß die Gegend oder hatte er finstere Absichten?
Ich hätte mich gern bewegt, doch bei den trockenen Zweigen auf dem Boden würde er mich hören. Wenn ich jedoch herausfinden wollte, was da vor sich ging, musste ich das Risiko aber wohl eingehen.
Ein leises Geräusch riss mich aus meinen Gedanken. Ich hörte wieder das Rascheln von Stoff, und einen Augenblick später vernahm ich deutlich, wie eine Waffe entsichert
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