Ringwelt 06: Flatlander
Weiß, durchzogen von den breiten dunklen Schatten vereinzelter Städte mit ihren Gebäuden. Alles sah unwirklich und abstrakt aus, während wir mit unserem Flugzeug in westlicher Richtung darüber hinweg flogen.
Mitten in der Luft bremste die Maschine ab, faltete die Flügel aus und sank langsam dem Stadtzentrum von Topeka entgegen. Dieser Trip würde sich auf meinem Spesenkonto gar nicht gut machen. Der ganze weite Weg, um ein Mädchen zu besuchen, das in den letzten drei Jahren keinen zusammenhängenden Satz mehr von sich gegeben hatte. Wahrscheinlich würden sie mir die Kosten nicht erstatten … und doch war das Mädchen ebenso sehr Teil des Falles wie ihr Bruder. Wer auch immer den Plan gefaßt hatte, die Chambers ein zweites Mal zu entführen, um Lösegeld einzustreichen, würde sich auch Charlotte schnappen.
Das Menninger-Institut befand sich in einem stattlichen Anwesen. Neben dem zwölfstöckigen Hauptgebäude aus Glas und Ziegelsteinverblendung standen wenigstens ein Dutzend Nebengebäude aus den verschiedensten Epochen und Stilrichtungen, von schmucklosen Kästen bis hin zu Konstruktionen, die aus organischer Substanz zu bestehen schienen und aus Schaumstoffen gegossen waren. Die Gebäude standen weit auseinander, und in den Zwischenräumen dehnten sich Rasenflächen, alte Bäume und Blumenbeete aus. Es war ein Ort des Friedens, ein Ort, der genügend Luft zum Atmen garantierte. Das Personal war auf den ersten Blick zu erkennen.
»Sobald ein Patient weit genug genesen ist, um nach draußen zu gehen und einen Spaziergang zu unternehmen, braucht er das Grün und die Blumen«, erzählte mir Doktor Hartmann. »Das gehört mit zu unserer Therapie. Der erste Schritt nach draußen bedarf einer gewaltigen Willensanstrengung.«
»Haben sie viele Patienten, die unter Platzangst leiden?«
»Nein, darauf habe ich überhaupt nicht anspielen wollen. Das Türschloß ist es, was zählt. Für jeden normalen Menschen bedeutet ein Schloß an der Tür, daß er eingesperrt ist. Für unsere Patienten hingegen ist das Schloß ein Sinnbild für Sicherheit. Jemand anders trifft für sie die Entscheidungen und hält die böse Welt von ihnen fern.«
Doktor Hartmann war klein und stämmig und hatte blondes Haar. Eine angenehme Person, umgänglich, geduldig und selbstsicher. Genau der Mann, dem man sein Schicksal anvertrauen würde, vorausgesetzt, man war es leid, sich selbst darum zu kümmern.
»Ist die Heilungsquote denn hoch?« fragte ich.
»Selbstverständlich. Tatsächlich nehmen wir einen Patienten überhaupt nur dann auf, wenn wir das Gefühl haben, ihm helfen zu können.«
»Das macht sich ganz ohne Zweifel hervorragend in Ihren Akten.«
Er war keineswegs beleidigt. »Nicht nur das, es macht sich auch bei unseren Patienten gut. Zu wissen, daß wir sie heilen können, erfüllt sie mit ungeahnter Zuversicht. Und die unheilbar Wahnsinnigen … sind einfach viel zu deprimierend.« Einen Augenblick erweckte er den Eindruck, als wolle er unter einer gewaltigen Last zusammensinken. Dann war er wieder ganz der Alte. »Sie beeinflussen die anderen Patienten negativ. Zum Glück gibt es heutzutage nicht mehr allzu viele unheilbar Kranke.«
»Gehörte Charlotte Chambers zu den Heilbaren?«
»Das dachten wir anfangs. Schließlich hatte sie lediglich einen Schock erlitten. In ihrer Krankenakte fand sich kein Hinweis auf frühere Persönlichkeitsstörungen. Ihr Blutspiegel an psychoaktiven Substanzen wies nahezu normale Werte auf. Wir probierten jede nur bekannte Methode aus. Wir versuchten es mit Streicheln, wir manipulierten ihre Biochemie, wir versuchten es mit Psychotherapie, doch wir kamen nicht weit. Entweder sie ist taub, oder sie will einfach nicht zuhören. Gleichgültig was, sie redet einfach nicht. Manchmal denke ich, sie versteht jedes Wort … aber sie reagiert einfach nicht!«
Wir waren vor einer massiven, verschlossenen Tür angekommen. Doktor Hartmann suchte einen großen Schlüsselbund nach dem passenden Schlüssel ab und sperrte das Schloß auf. »Wir nennen es die Abteilung für Gewalttätige, doch eigentlich ist es eine Abteilung für schwer Gestörte. Bei einigen Patienten wünschte ich ernsthaft, wir könnten sie soweit bringen, Gewalt anzuwenden … Charlotte zum Beispiel. Sie wirft nicht einmal einen Blick auf die Realität, geschweige denn, daß sie sich mit ihr auseinander setzt … So, da wären wir.«
Die Tür öffnete sich zum Korridor hin. Mein nüchterner, professioneller Verstand verriet mir den
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