Ringwelt 11: Die Flotte der Puppenspieler
»Sie selbst nennen sich ›Gw’oth‹, Eric«, erklärte Kirsten. »›Gw’o‹, wenn man nur über einen einzelnen spricht.«
»Vielleicht heißt das übersetzt ja ›Seestern‹.«
»Was auch immer es heißen mag, auf jeden Fall sind sie echte Abenteurer – in gewisser Weise ebenso Raumfahrer wie wir.« Eric war so begeistert von der Kultur der Bürger – man brauchte sich ja nur die Locken und den Schmuck seines Haares anzuschauen! –, dass Kirsten ernsthaft bezweifelte, ihr Kollege könne jemals begreifen, wie absolut unglaublich die Gw’oth in Wirklichkeit waren. Doch sie hatte das unwiderstehliche Bedürfnis, es ihm wenigstens nahe zu bringen. Vielleicht konnte sie ja zu ihm vordringen, wenn sie es in ›seiner‹ Sprache versuchte.
»Jemand, den ich kenne, hat vor nicht allzu langer Zeit vermutet, diese ganze Reise hier sei nichts anderes als eine aufwändige Prüfung. Wenn dem so ist, dann hängt unsere Abschlussnote gewiss auch davon ab, wie viel wir über diese Burschen da herausfinden. Denk doch mal darüber nach, Eric! Die haben sich im Ozean entwickelt. Unter Wasser zu leben bedeutet: kein Feuer, keinerlei Metallbearbeitung. Dass sie sich auf das Eis gewagt haben, dann in das Vakuum über dem Eis, war wirklich eine Heldentat!«
Wenn ihre Szeneninterpretation und Teilübersetzungen korrekt waren, dann hatten diese ersten Erkundungsreisen mit höchst primitiver Ausrüstung stattgefunden. Die ersten Schutzanzüge schienen kaum mehr als durchsichtige Beutel gewesen zu sein, über lange Schläuche mit Unterwasser-Pumpen verbunden, die von anderen Gw’oth betrieben wurden – von einer sicheren Position unter der Eisdecke aus. Diese Beutel, diese Schutzanzüge, und auch die Schläuche waren anscheinend aus der robusten Haut bislang unbekannter Tiefseelebensformen gefertigt. Kirsten rief einige Bilder aus dem Archiv der Explorer auf. »Jetzt sieh dir das an!«
Nessus kam zu ihnen in den Gemeinschaftsraum. Es war Kirsten nicht entgangen, dass er anscheinend immer dann auftauchte, wenn ein Gespräch gerade interessant zu werden versprach. »Lasst euch von mir nicht stören«, sagte er. »Ich wollte nur eine Kleinigkeit essen.«
»Also haben diese Seesterne«, ergriff Eric wieder das Wort und blickte Nessus Beifall heischend an, »mit Steinwerkzeugen ein Loch in die Eisdecke geschlagen und sind in diesen Leder-Blasen hinausgeklettert – und da steht schon jemand auf dem Eis und nimmt das alles mit einer Videokamera auf? Haben sie die auch aus Stein gemeißelt? Kirsten, das ergibt doch überhaupt keinen Sinn!«
Bürger aßen sehr häufig, aber immer nur mit einem ihrer Münder, sodass sie mit dem anderen Kopf ihre Umgebung im Auge behalten konnten. Während Nessus nun aß, beobachtete er seine Mannschaft. Kirsten versuchte, nicht darüber nachzudenken, dass er ihr Verhalten gerade begutachtete und zweifellos beurteilte, und so deutete sie auf das Video, das sie gerade aus dem Archiv aufgerufen hatte. »Ich nehme an, da haben sie das nachgestellt. Vielleicht ist das ein Gw’o, den die Herausforderung interessiert. Vielleicht ist das eine Geschichtssendung oder ein Bildungsprogramm oder eine Unterhaltungsshow. Aber in einer Hinsicht hast du recht, Eric. Die hätten keine Videokameras und keinerlei Elektronik verwenden können, bis sie auf die Eisfläche hinausgekommen waren. Ihre einzigen Erfahrungen mit Gasen haben sie bisher bei irgendwelchen Vulkanausbrüchen im Meer sammeln können oder wenn Wasser durch plötzlich auftretende Brüche im Eis in Kontakt mit dem Vakuum gekommen ist und deswegen gesiedet hat. Und jetzt sieh sie dir doch an. Wir haben hier Videoaufzeichnungen von denen: Die tragen diese Druckanzüge in den Gebäuden, die sie auf der Eisdecke errichtet haben, um dort eine Atmosphäre aufrechterhalten zu können. Und warum? Die brauchen Feuer! Und dieses Feuer brauchen sie für industrielle Prozesse, die ihnen noch völlig neu sein müssen.« Kirsten wünschte, sie hätte mehr sagen können, doch es ging weit über ihren Erfahrungsbereich hinaus, Mutmaßungen darüber anzustellen, welche alternativen Entwicklungswege die Technik beschreiten könnte.
Nessus stellte seine Schale ab; er hatte seinen Haferschleim noch nicht einmal angerührt. »Eric, was denkst du? Wäre ein derartiges Szenario plausibel?«
Eric nahm eine Körperhaltung ein, die Kirsten mittlerweile nur zu vertraut war und die ein sonderbares Gefühl bei ihr hervorrief: ehrfurchtsvolles Auftreten ihrem Mentor gegenüber.
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