Ringwelt 11: Die Flotte der Puppenspieler
gerade ausreichte, das nackte Überleben zu sichern! Diese Suche nach Wissen, das unbändige Streben danach, die eigenen Fähigkeiten auszubauen, und der Nachdruck, mit dem sie sich um all das bemühten, waren vorbildhaft …
Und plötzlich kam Kirsten eine Erkenntnis, die ihr eigenes Volk betraf.
Kolonisten besaßen keinerlei Stolz. Wie sollten sie auch, nachdem sie auf keinerlei Erfolge zurückblicken konnten, die sie ihrer eigenen Tatkraft zu verdanken gehabt hätten? NSW 4 war schon urbar gewesen, lange bevor die Kolonisten diese Welt zum ersten Mal betreten hatten, und selbst die Technologie, die ihnen dort zur Verfügung stand, war weit weniger fortschrittlich als das, was die Bürger selbst nutzten. Ihre Wohltäter waren nicht gewillt, mit den Kolonisten sämtliche Dinge zu teilen, die die Konkordanz jemals erforscht oder erfunden hatte: Die Bürger erachteten die Kolonisten als ›unwürdig‹ oder als ›unvorbereitet‹ oder auch – aus irgendeinem anderen, nicht näher bezeichneten Grund – als ›noch nicht bereit dafür‹.
Theoretisch von ganzen Welten zu wissen, auf denen sich eigenständige Lebensformen entwickelt haben mochten, war eine Sache … doch die Bemühungen der Gw’oth aus nächster Nähe mitzuerleben, das war etwas völlig anderes. Erst durch diese Erfahrung war Kirsten klar geworden, dass ihr eigenes Volk seine ursprüngliche Heimat verloren hatte, dass diese ursprüngliche Heimat tatsächlich etwas Reales war. Irgendwo dort draußen gab es eine Welt, die so real und so einzigartig war wie dieser Eismond der Gw’oth.
Vor ihrem geistigen Auge sah Kirsten eine blassblaue Kugel, die eine gewisse Ähnlichkeit mit NSW 4 aufwies, doch sämtliche Details waren bis zur Unkenntlichkeit verschwommen. Kirstens eigene Vorfahren mussten diese Welt urbar gemacht, ihre eigene Technologie entwickelt und sich irgendwann auch alleine und ohne fremde Hilfe ins All hinaus gewagt haben. Wenn Kirsten in der Lage war, die Gw’oth für deren Leistungen und Errungenschaften zu respektieren, sollte sie dann nicht auch Ehrfurcht vor ihren eigenen Vorfahren haben?
Wie sie wohl gewesen sein mochten? Wie hatten sie sich organisiert? Welche Ziele hatten sie verfolgt? In welcher Sprache hatten sie miteinander kommuniziert? Gewiss war diese Sprache ungleich logischer und strukturierter als dieses Englisch, das die Bürger eigens für ihre Kolonisten entwickelt hatten.
Dieses neu erwachte Interesse machte es für Kirsten noch unerträglicher, in den Datenbanken der Explorer so wenig über die Rettung der Kolonisten vor so langer Zeit vorzufinden.
Wenn sich drei Personen auf der Brücke aufhielten, war es wirklich äußerst eng. Omar und Eric saßen nebeneinander auf Nessus’ gepolsterter Sitzbank; ihre Hüften berührten sich schon. Omar hielt ein Tablett, auf dem drei dampfend-heiße Kannen mit Stim-Saft standen. »Danke, dass ihr gekommen seid«, ergriff Kirsten das Wort.
»Was gibt’s denn?« Omar deutete auf die Instrumente vor sich. Kirsten wusste, was ihr Kollege meinte: Brauchen wir Nessus auch hier?
Dass Nessus sich nach wie vor in seiner Kabine verbarg, war Kirsten nur recht. Dass sie überhaupt in der Lage war, derart rebellische Gedanken eigenständig zu entwickeln, überraschte sie immer noch.
Sie hatte sich entschlossen, einen kurzen Zwischenstopp im Normalraum einzulegen, damit sie alle hier nicht den Verstand verloren. Jetzt konnte die Mannschaft durch die augenblicklich nicht verdunkelten Fenster diamantengleich glitzernde Lichtpunkte erkennen. Die Flotte lag noch weit vor ihnen und war mit bloßem Auge nicht zu erkennen. »Da draußen herrscht wirklich eine große Leere, nicht wahr?«
»Das ist ja nun nichts sonderlich Neues«, bemerkte Omar.
»Nein, aber es ist wirklich schwer zu begreifen, wie leer esist, solange man nicht unmittelbar damit konfrontiert wird.« Darüber ließ Kirsten ihre beiden Kollegen einen Augenblick nachdenken. »Stellt euch doch nur mal vor, wie unwahrscheinlich es war, dass ein Schiff der Bürger zufälligerweise auf das Wrack unserer Vorfahren gestoßen ist, als das so herrenlos im Raum trieb.« Noch unwahrscheinlicher wurde es, wenn man bedenkt, dass Schiffe, die üblicherweise unter Hyperraumantrieb fuhren, nur selten und in unregelmäßigen Abständen in den Normalraum zurückkehrten. Und noch viel unwahrscheinlicher wurde es dann, wenn man berücksichtigt, dass in allen Erzählungen immer darauf hingewiesen wurde, wie die Retter ein Schiff entdeckt
Weitere Kostenlose Bücher