Rio Reiser - Das alles und noch viel mehr
geschrieben; der Titel geht auf den Satz 15 aus Kapitel 11 des Buches Matthäus aus dem Neuen Testament zurück, der da lautet: »Wer Ohren hat, der höre.«
Die neuen Songs wie Mitten in der Nacht , Okay oder Far up waren fast ausnahmslos gefühlvolle, aber viel zu soft und lieblich produzierte Balladen, die Rio plötzlich sehr gesetzt erscheinen ließen. Die Mischung aus »Beat, Polka, Ventures-Gitarren, Westcoast, Shanties und Bob Dylan« mag Annette Humpes Plattensammlung entsprochen haben, ließ aber vor allem Herzblut vermissen und eignete sich nicht dazu, einen Hund hinterm Ofen vorzulocken, geschweige denn alte Fans zurückzugewinnen. »Wenn Reiser über einen Bankbesuch mit Wasserpistole nachdenkt«, schrieb denn auch Claudia Wahjudi in der taz , sei das bereits »die Spitze seiner Kapitalismuskritik«. Und als Rio den Titel In A Zitty in der Sendung Elf 99 barfuß vorstellte, kündigte der Moderator ihn geradezu respektlos mit den Worten an: »Die Musik zieht mir auf keinen Fall die Schuhe aus.«
Über Alles , so der Titel seines fünften Solo-Albums, wurde am 6. September 1993 auf Platz 81 in den Charts notiert, fiel dann aber wieder raus und markierte den endgültigen Bruch mit George Glueck, der Rio mit auf den Weg gegeben hatte, wenn er schon vergewaltigt werde, solle er es wenigstens genießen. Glueck kann sich nicht mehr erinnern, in welchem Zusammenhang er diesen Satz gesagt haben soll. Auf jeden Fall stamme er aber von Konfuzius: »If rape is inevitable, lay back and enjoy it.«
30 Signale
Anlässlich der Veröffentlichung seines Albums Über Alles wurde Rio von der Zeitgeist-Gazette Wiener auf die Straße geschickt. In einer Hamburger Fußgängerzone baute er sich mit einer Klampfe zwischen einem polnischen Männerchor und einer hanseatischen Country-Truppe auf, schmetterte den König von Deutschland und sang alte Scherben-Songs. Ein Passant wunderte sich, wie gut er »die Reiser-Sachen« drauf habe, ein anderer erkannte ihn jedoch und hatte Mitleid: »Mönsch, muss es dem schlecht gehen, wenn der auf der Straße spielt.«
Auch sonst nahm Rio so gut wie jeden Auftrag an. Für ein Solo-Album des Trio-Gitarristen Kralle Krawinkel übersetzte er dessen englische Texte zurück ins Deutsche. Für das Stück Egmont & Don Carlos von Schiller & Goethe , das Leander Haußmann am Berliner Schillertheater inszenierte, schrieb er die Musik, die von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als »sülziger Pop-Rock mit banalen Liedphrasen von Traum, Schaum und Hoffnung« nicht gerade wohlwollend hervorgehoben wurde (Haußmann kam nicht viel besser weg, über ihn hieß es: »Nach dieser altbackenen Inszenierung wird man Leander Haußmann hoffentlich nie mehr einen Jungregisseur schimpfen.«). Alfred Biolek lud ihn in seine Talkshow zum Thema Deutschland, mein ärgerliches Vaterland ein, wo er mit Evelyn Künneke und Stefan Heym über sein gespaltenes Verhältnis zur Heimat plauderte und erwähnte, dass er gerade Eichendorfs Novelle Aus dem Leben eines Taugenichts lese. In der allerletzten Schmidt-Mitternachts-Show des NDR sang er sein Lied 4 Wände im Duett mit der Komikerin Marlene Jaschke. Und als die Ministerin für Frauen und Jugend, Angela Merkel, auf dem Heißen Stuhl von RTL-Explosiv saß, trat er gemeinsam mit dem Dramatiker Rolf Hochhuth und dem ehemaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin, Walter Momper, gegen sie an und vertrat die These, dass nur diejenigen »Freude an der Einheit« hätten, die daran verdienten.
Parallel dazu hatte er zusammen mit Hannes Eyber seine Autobiografie König von Deutschland verfasst, die im Frühjahr 1994 bei Kiepenheuer & Witsch erscheinen sollte. Dem Verlag sei es egal gewesen, was sie ablieferten, Hauptsache, sie hielten den Abgabetermin ein, erinnert sich Eyber. Rio sei noch vierzehn Tage vorher davon überzeugt gewesen, es auch zu schaffen, schließlich habe er bislang immer alles rechtzeitig auf die Reihe gekriegt, doch dann mussten sie seine Lebensgeschichte doch abkürzen und mit der Auflösung von Ton Steine Scherben enden lassen – was Rio wohl ganz recht war, konnte er sich doch so nicht mit Interna über Sony und George Glueck die Zunge verbrennen.
Bevor er mit seinem Freund Niels und seinem Bruder Gert über Weihnachten nach Thailand flog, bat er Eyber noch, alles Negative, was er über seinen ältesten Bruder Peter gesagt habe, zu streichen. Doch das reichte bei weitem nicht, als der Verlag ihm kurz darauf die Pistole auf die Brust setzte und ihn
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