Ripley’s Game oder Der amerikanische Freund
Auto gestiegen war.
Simone folgte Jonathans Trage um eine Ecke und verschwand. Tom schien es, als schreite sie schon im Trauerzug zum Grab. Er drehte sich um und ging zu Reeves zurück.
»Bloß weg hier«, sagte Tom, »solange wir können.« Er wollte verschwinden, bevor irgendwer Fragen stellte oder sein Kennzeichen notierte.
Sie stiegen ein. Tom fuhr in Richtung des Denkmals. Nach Hause.
»Was glauben Sie, ist Jonathan wirklich tot?« fragte Reeves.
»Ja. Sie haben den Arzt doch gehört.«
Reeves versank im Sitz und rieb sich die Augen.
[369] Alle beide hatten noch nicht richtig begriffen, dachte Tom. Er fürchtete, sie könnten verfolgt werden: ein Wagen vom Krankenhaus, vielleicht auch ein Streifenwagen. Man lud dort nicht einfach einen Toten ab und fuhr wieder weg, ohne Fragen zu beantworten. Was würde Simone sagen? Heute abend würden die Beamten ihr Schweigen noch hinnehmen, aber was wäre morgen? »Und Sie, mein Freund?« fragte Tom heiser. »Keine gebrochenen Knochen, keine ausgeschlagenen Zähne?« Reeves mußte geredet haben, vielleicht schon sofort.
»Nur Brandmale von Zigaretten«, sagte Reeves kleinlaut, als seien Verbrennungen gar nichts im Vergleich zu einer Kugel im Körper. Er trug einen kurzen rötlichen Vollbart.
»Sie wissen wohl, was uns im Haus der Trevannys erwartet. Zwei Leichen.«
»Aha. Gut. Natürlich, das dachte ich mir. Die beiden sind ja nicht zurückgekommen.«
»Ich würde vorbeifahren und etwas unternehmen, egal was, aber die Polizei dürfte schon da sein.« Als hinter Tom eine Sirene aufheulte, klammerte er sich in einem Anfall von Panik am Steuer fest, doch es war nur ein weißer Krankenwagen mit Blaulicht, der Tom am Denkmal überholte und nach rechts in Richtung Paris davonschoß. Wenn es doch Jonathan wäre, den sie in ein Pariser Krankenhaus verlegten, wo man ihn besser behandeln konnte. Jonathan war sicher absichtlich dazwischengetreten, als der Mann im Wagen auf ihn feuerte. Oder doch nicht? Niemand überholte sie oder zwang sie mit Sirenengeheul zum Halten. Dann erreichten sie Villeperce. Reeves war [370] eingenickt, gegen die Tür gelehnt, erwachte aber, als der Wagen hielt.
»Mein trautes Heim«, sagte Tom.
Sie stiegen in der Garage aus. Tom verschloß das Garagentor und schloß die Haustür auf. Alles ruhig und friedlich. Kaum zu glauben.
»Wollen Sie sich nicht aufs Sofa hauen, während ich uns Tee koche?« fragte Tom. »Den brauchen wir jetzt.«
Sie tranken Tee mit Whisky, mehr Tee als Whisky allerdings. Reeves bat Tom auf seine übliche, fast unterwürfige Art um etwas Brandsalbe; Tom fand eine Tube in dem Arzneischränkchen der unteren Toilette. Dorthin zog Reeves sich zurück, um seine Wunden zu versorgen – allesamt auf dem Bauch, wie er sagte. Tom steckte sich eine Zigarre an, nicht weil er wirklich Lust darauf hatte als vielmehr wegen des Gefühls unerschütterlicher Sicherheit, das eine Zigarre ihm gab. Möglich, daß das Gefühl trog, aber nur der Schein zählte, die Illusion, die äußere Haltung, die man bei Problemen bewahrte. Man mußte nur selbstbewußt auftreten.
Als Reeves wieder ins Wohnzimmer kam, fiel ihm das Cembalo auf.
»Ja, eine Neuerwerbung«, sagte Tom. »Ich würde gern Unterricht nehmen, in Fontainebleau oder anderswo. Héloïse vielleicht auch. Wir können ja nicht weiter wie zwei Affen darauf herumklimpern.« Eine merkwürdige, unbestimmte Wut stieg in ihm auf, weder gegen Reeves noch sonst jemanden gerichtet. »Was ist in Ascona passiert?«
Reeves nippte erneut an seinem Tee und schwieg ein Weilchen, als müsse er sich Stück für Stück aus einer [371] anderen Welt zurückholen. »Ich muß an Jonathan denken. Tot – das wollte ich nicht, wissen Sie.«
Tom schlug die Beine übereinander. Auch er mußte an Jonathan denken. »Ascona: Was war da los?«
»Ach so. Na ja, wie ich schon sagte, die hatten mich gefunden. Vor ein paar Tagen hat mich dann abends einer von denen auf der Straße angesprochen. Ein junger Bursche, sportliche Sommerkleidung, sah aus wie ein italienischer Tourist. Er sagte auf englisch: ›Pack deinen Koffer, bezahl das Zimmer und verlaß das Hotel. Wir werden warten.‹ Ich hatte natürlich keine Wahl – ich meine, ich wußte, was kommen würde, sollte ich versuchen wegzulaufen. Das war am Sonntag, so gegen sieben Uhr abends. Gestern, nicht?«
»Ja, gestern war Sonntag.«
Reeves starrte auf den Couchtisch. Aufrecht saß er da, eine Hand behutsam auf den Bauch gelegt, auf seine Brandwunden.
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