Riptide - Mörderische Flut
war, und fand zu seinem Erstaunen dieselben Pflanzen und Tiere vor, die er schon unzählige Male an Felsen und in Fluttümpeln gesehen hatte: Erst kam ein Streifen mit Muscheln, dann einer mit Seetang, gefolgt von weiteren Muscheln und Napfschnecken. Als nächstes sah Hatch Streifen mit Seesternen, Seegurken, Uferschnecken, Seesternen und Seeanemonen. Die letzte Zone schließlich bestand aus Korallen. Hunderte von Wellhornschnecken hingen traurig an Wänden und Balken und warteten vergeblich auf die Rückkehr des Wassers. Ab und zu gab eine von ihnen auf und stürzte nach unten in den gähnenden Abgrund.
Obwohl die Arbeiter bereits jede Menge Schutt aus der leergepumpten Grube entfernt hatten, war immer noch genügend vorhanden, um den Abstieg zu einer Art Hindernisklettern zu machen. Streeters Leute hatten die Leiter geschickt an faulenden Balken, verbeulten. Blechstücken und Resten alten Bohrgestänges vorbei verlegt. Hatch mußte anhalten, weil Neidelman einen Sensor in einer kleinen Öffnung befestigte, die sich in der holzverschalten Wand des Schachtes auftat. Während Wopner den Sensor kalibrierte, spürte Hatch, wie sich seine Stimmung in der fauligen Atmosphäre der Grube rapide verdüsterte. Er fragte sich, ob es den anderen wohl ähnlich ging, oder ob er einfach unter dem Wissen litt, daß irgendwo in diesem kalten, tropfenden Labyrinth die Leiche seines Bruders lag.
»Mann, das ist vielleicht ein Gestank «, fluchte Wopner, während er auf seinem kleinen Computer etwas eintippte.
»Die Luft ist in Ordnung«, sagte Neidelman nach einem Blick auf sein Gaswarngerät.
»Aber wir werden trotzdem in den nächsten Tagen ein Belüftungssystem installieren.«
Je weiter sie nach unten stiegen, desto weniger waren die alten Balken mit Seegras bewachsen. Nur noch vereinzelte Tangfetzen hingen an ihnen fest. Von oben war ein gedämpftes Rumpeln zu hören, das Hatch als den Donner des herannahenden Gewitters identifizierte. Er blickte hinauf und sah durch die Öffnung des Schachtes ein kleines Stück Himmel und die dunkel aufragende Silhouette des Orthanc. Der Himmel war jetzt von dunklen Wolken überzogen, die ihm eine stahlgraue Farbe verliehen. Das bläuliche Licht eines herabzuckenden Blitzes erhellte einen Augenblick gespenstisch die Wände der Grube.
Auf einmal blieb die Gruppe unter Hatch abermals stehen. Er blickte nach unten und sah, wie Neidelman mit seiner Helmlampe zwei unregelmäßige Öffnungen in der Schachtwand ableuchtete. Es handelte sich offenbar um Tunnels, die sich nach links und rechts in der Dunkelheit verloren.
»Was halten Sie davon?« fragte Neidelman, während er einen weiteren Sensor anbrachte.
»Dieser Stollen stammt nicht von den Piraten«, meinte Bonterre, die sich gerade in einen der Tunnels hineinbeugte, um einen Sensor anzubringen. »Schauen Sie sich doch den Ausbau an: Hier wurden dünnere Hölzer verwendet, die mit der Säge bearbeitet wurden, nicht mit dem Beil. Könnte sein, daß ihn die Parkhurst-Expedition von 1830 angelegt hat.«
Sie kam aus dem Stollen und streckte sich. Dann blickte sie nach oben zu Hatch, wobei der Strahl ihrer Helmlampe dessen Beine beleuchtete. »Ich kann Ihnen unter den Rock gucken«, sagte sie mit einem dreckigen Grinsen.
»Vielleicht sollten wir die Plätze tauschen«, entgegnete Hatch. Die Gruppe setzte sich wieder in Bewegung und stieg weiter die Leiter hinab. In regelmäßigen Abständen wurden Balken und Schachtwände mit Sensoren versehen, bis Neidelman die Plattform in fünfzehn Metern Tiefe erreicht hatte. Im Licht der Helmlampen konnte Hatch erkennen, daß Neidelmans Gesicht vor Aufregung ganz blaß war. Trotz der Kälte im Schacht glänzte es vor Schweiß.
Von oben war abermals das Zucken eines Blitzes zu sehen, gefolgt von dumpfem Donnergrollen. Die kleinen Rinnsale an der Schachtwand flossen jetzt stärker, woraus Hatch schloß, daß ein heftiger Regenguß auf die Insel herniederging. Er blickte hinauf, aber die vielen Querverstrebungen, an denen sie vorbeigekommen waren, versperrten ihm jetzt fast vollständig die Sicht nach oben. Wassertropfen fielen durch den Strahl seiner Helmlampe. Er fragte sich, ob wohl die Dünung stärker geworden war und ob der Kofferdamm dem zusätzlichen Druck standhalten würde. Einen Augenblick lang drängte sich ihm das Bild des berstenden Damms auf, durch den das Wasser zurück in die Grube schoß und sie alle binnen weniger Sekunden ertränkte.
»Mir ist kalt«, beschwerte sich Wopner. »Wieso hat
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