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Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft (German Edition)

Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft (German Edition)

Titel: Risiko: Wie man die richtigen Entscheidungen trifft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Gigerenzer
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ethisch angesprochen fühle, etwas gegen dieses Problem zu unternehmen. Der CEO machte deutlich, dass er sich in erster Linie den Aktionären verpflichtet fühle, nicht den Patienten oder Ärzten. Ich erwiderte, genauso hätten die Banken vor der Immobilienkrise gedacht. Irgendwann in der Zukunft würden die Patienten bemerken, wie oft sie getäuscht wurden, statt informiert zu werden, so wie es am Ende die Bankkunden getan hätten. Dann würde die Gesundheitsindustrie möglicherweise das Vertrauen der Öffentlichkeit verlieren, so wie es dem Bankensektor ergangen sei. Der CEO war von diesem Vergleich sichtlich überrascht, holte kurz Atem, nur um dann diese Möglichkeit hastig auszuschließen.
    Statt darüber nachzudenken, wie das Problem zu lösen sei, versuchte der Dekan einer medizinischen Fakultät in der Diskussion zu bestreiten, dass Medizinstudenten keine effiziente Unterweisung in statistischem Denken erhielten. Als ich ihn direkt fragte, ob er sich sicher sei, dass Absolventen seiner Fakultät in der Lage seien, einen Artikel in einer medizinischen Zeitschrift zu lesen und zu bewerten, zögerte er und murmelte erbost, dass das wohl bei einigen der Fall sei und bei anderen nicht. Ich bot ihm an, seine Studenten zu testen und bei der Entwicklung eines entsprechenden Curriculums behilflich zu sein, damit jeder junge Mediziner nach Studienabschluss Evidenz versteht. Obwohl das die erhitzte Debatte ein wenig beruhigte, ist der Dekan nie auf mein Angebot zurückgekommen. In der verbleibenden Zeit ging es in der Podiumsdiskussion um Businesspläne, die das Interesse der anwesenden Krankenversicherer und Politiker in weit höherem Maße zu fesseln wussten. Risikointelligente Ärzte und Patienten gehören nicht zum Businessplan.
    Das SIC-Syndrom
    Sind sich Patienten bewusst, dass viele Ärzte die Ergebnisse ihrer Tests nicht verstehen? Und wissen Patienten, dass Ärzte defensive Medizin praktizieren, wie in Kapitel 3 gezeigt? Soweit ich bislang gesehen habe, selten. Beispielsweise geht aus einer Studie über defensive Medizin in Spanien hervor, dass die meisten Ärzte unterschiedliche Therapien für sich und ihre Patienten wählen. 165 Vielleicht haben die Ärzte ja die Therapiewünsche ihrer Patienten falsch eingeschätzt. Nein. Die Ärzte sagten die Behandlungspräferenzen ihrer Patienten sehr genau voraus, wählten aber trotzdem Therapien, die sie vor Schadenersatzklagen schützten. Die nichtsahnenden Patienten glaubten irrtümlich, ihr Arzt hätte diejenige Behandlungsmethode gewählt, für die er sich selbst an ihrer Stelle entschieden hätte.
    Die Arzt-Patienten-Beziehung ist ein persönliches Vertrauensverhältnis. Je mehr den Patienten die Zahlenblindheit und die defensiven Entscheidungen der Ärzte bewusst werden, desto stärker wird das Vertrauen untergraben. Eltern werden beginnen, die Beweggründe für die Empfehlungen ihres Arztes infrage zu stellen. Warum schlägt er einen MRT - oder CT -Scan für ihr Kind vor? Und manch eine Frau wird sich fragen, warum bei ihr ein Kaiserschnitt gemacht werden soll. Irgendwann werden die Patienten beginnen, an der Motivation der Ärzte zu zweifeln, und erkennen, dass mehr Tests und Eingriffe nicht immer besser sind. Das Ende vom Lied wird, wie gesagt, ein ähnlicher Vertrauensverlust im Gesundheitswesen sein, wie wir ihn im Bankensektor erlebt haben.
    Drei Bomben ticken in den gegenwärtigen Gesundheitssystemen, die das Vertrauen der Öffentlichkeit zu zerstören drohen. Ärzten handeln nicht im besten Interesse ihrer Patienten, weil sie
    1. defensive Medizin praktizieren ( S elbstschutz),
    2. Gesundheitsstatistiken nicht verstehen (» I nnumeracy« bzw. Zahlenblindheit) oder
    3. sich am Profit und nicht am ärztlichen Ethos orientieren (» C onflicts of Interest« bzw. Interessenkonflikte).
    Nennen wir es das SIC -Syndrom unseres Gesundheitssystems. [Im Englischen bezeichnet das Wort »sick«, das identisch ausgesprochen wird, ein krankes System.] Diese Bedingungen führen in ihrem Zusammenwirken häufig zu schlechter Versorgung. Unter den dreien ist Zahlenblindheit das am wenigsten bekannte Problem. Interessenkonflikte, die entstehen, weil sich die Medizin immer stärker am Profit statt am Ethos orientiert, sind inzwischen ein weltweit verbreitetes Phänomen. So erlaubt der Gesetzgeber niedergelassenen Ärzten in westlichen Ländern, für jeden Patienten, dem sie Arzneimittel eines Pharmaunternehmens verschreiben, von diesem »Bestechungsgelder« in Form von

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