Riskante Liebe
Stelle zu ihm gerannt, um ihn vor seinem Fortgehen wenigstens noch einmal sehen zu können. Noch nie hatte ich mich so sehr nach der Gegenwart eines anderen Menschen gesehnt. Ich überlegte, ob ich Jolaria von ihm erzählen sollte, unterließ dies aber, denn ich wusste, dass sie sich Sorgen um mich machen würde. Jolaria selbst hatte keine Angst vor Seratta, aber sie fürchtete um mich. Schon oft hatte sie mich eindringlich ermahnt, meinen Unwillen oder mein Unverständnis über die oft grausamen, böswilligen Anordnungen Serattas nicht offen zu zeigen. Je älter ich wurde, desto schwerer fiel es mir. Einzig die bedrohliche Aussicht, nicht mehr in den Wald gehen zu dürfen, half mir dabei, meine wahren Gefühle zu verbergen.
»Warum ist Seratta so bösartig? Warum will immer sie das Sagen haben und hasst Männer so sehr?«
Jolaria, die bis dahin Kräuter sortiert hatte, bedeutete mir, mit ihr hinauszugehen. Der Regen hatte aufgehört und gierig sog ich die frische, feuchte Luft in meine Lungen. Wir gingen zu der großen Wiese vor dem Dorf, außer Hörweite der anderen und Jolaria begann, mit ihrem Grabstock vorsichtig ein paar Wurzeln auszugraben. Froh darüber, noch ein wenig frische Luft an diesem Abend abzubekommen, tat ich es ihr gleich. Jolaria begann zu erzählen.
» Seratta ist krank. Die Krankheit ist in ihrem Kopf. Sie hat keine körperlichen Beschwerden, aber sie denkt und fühlt seltsam und falsch. Der Grund dafür liegt in den Erfahrungen, die sie in ihrer Kindheit gemacht hat. Als sich die Überlebenden hierher auf den Weg gemacht haben, da lebten Männer und Frauen noch in einer Gemeinschaft. Sie bildeten Familien, halfen sich gegenseitig und vermehrten sich auf natürliche Art. Aber es gab damals schon mehr Frauen als Männer: Nur etwa jede Dritte war mit einem Mann zusammen.«
Auf meinen erstaunten Ausruf hin nickte sie.
»Vor vielen Sommern gab es hier im Dorf einen großen starken Mann namens Soran, der den Leuten sagte, was sie zu tun hätten. So wie Seratta heute. Soran hatte eine zarte, schwächliche Frau, die bei der Geburt ihres ersten Kindes starb. Dieses Kind, ein Mädchen, war Seratta. Sie wuchs allein bei ihrem Vater auf. Meine Mutter, also die Frau, die mich geboren hat, kümmerte sich tagsüber um Seratta, als sie noch kleiner war. Niemand wusste, dass Soran seine Tochter, sobald sie zu einem jungen Mädchen wurde, grausam misshandelte und ihr wehtat. Seratta war zu stolz, um sich irgendjemandem anzuvertrauen. Ganz zu schweigen davon, dass ihr vermutlich auch niemand Glauben geschenkt hätte, denn ihr Vater war als gerechter, tatkräftiger Mann hochgeachtet. Er hatte zwei Gesichter. Niemand von uns hätte ihm Grausamkeit zugetraut.
Eines Morgens, Seratta war etwa so alt wie du jetzt, rief sie vor ihrer Hütte laut um Hilfe. Alle rannten hin und fanden Soran leblos vor seiner Schlafstelle liegend. Seine rechte Kopfseite war angeschwollen und blutverkrustet. Seratta erzählte vollkommen aufgelöst, er sei aufgestanden, ganz plötzlich zusammengebrochen und mit dem Kopf auf den Boden gefallen. Und jetzt würde er nicht mehr atmen. Mir kam Serattas Kummer sehr gespielt vor. Als sie sich zu rasch bewegte, verrutschte ihr Überwurf und ich sah, dass ihre Oberschenkel mit blauen Flecken übersät waren, bevor sie sie schnell wieder verdeckte. Nur ich bemerkte, dass sie sich im allgemeinen Tumult an ihrer Schlafstelle zu schaffen machte. Ich wurde misstrauisch und zweifelte an ihrer Geschichte, Soran sei gestürzt. Sobald sie mit allen anderen die Leiche zum Aufbahren nach draußen auf den Dorfplatz trug, ging ich zu ihrer Schlafkuhle und fand, unter dem Laub und Moos vergraben, einen faustgroßen, blutverkrusteten Stein. Vermutlich war Soran zu brutal gewesen und sie hat ihn, aus Angst um ihr Leben oder aus Wut, erschlagen. Ich habe nie jemandem davon erzählt, weil sie mir entsetzlich leid tat.
Nach Soran s Tod allerdings begann sie, die Herrschaft über das Dorf an sich zu reißen. Sie erklärte, ihr Vater habe gewollt, dass sie seine Nachfolgerin werde. Du kennst sie, wie überzeugend sie auftreten kann. Irgendwann gewöhnten sich alle daran, dass sie nun das Oberhaupt war. Vor allem die Frauen ohne Männer und Kinder, die sie geschickt mit Vergünstigungen umgarnte, brachte sie rasch auf ihre Seite. Nur ein jüngerer Mann, der selbst gerne Sorans Nachfolger geworden wäre, erkannte ihre Führungsrolle nicht an. Eines Nachts überfiel er sie und wollte ihr Gewalt antun. Er hatte
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