Riskante Nächte
kalten Untergrund. Panik packte sie.
Ich bin in einer Leichenhalle. Gütiger Himmel, ich bin tot!
Nein, das stimmte nicht. Wenn sie tot wäre, würde sie es nicht so unbequem haben. Es sei denn natürlich, sie wäre geradewegs in die Hölle hinabgefahren, für die Sünde, eine Mörderin zu sein.
Sie schlug die Augen auf. Dunkle, erdrückende Schatten hüllten sie ein, doch an einer Wand bemerkte sie Lichtstreifen. Die Streifen waren klar umrissen, nicht verschwommen. Sie trug also ihre Brille. Das war ein weiterer Hinweis, dass sie noch immer im Reich der Lebenden weilte.
Sie suchte nach irgendeiner greifbaren Erinnerung, die ihre derzeitige Lage erklärte. Das Bild von Digbys reglos auf dem Fußboden ausgestreckten Körper tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Schlagartig war es wieder da, das beängstigende Gefühl, in einem eisernen Griff gefangen zu sein, während sie strampelte und sich wehrte.
»Verfluchtes Miststück! « Quinbys Stimme. Danach war es um sie herum schwarz geworden.
Sie setzte sich vorsichtig auf und rückte entschlossen ihre Brille zurecht. Zum Glück wurden die Kopfschmerzen nicht schlimmer. Ihr Magen jedoch rebellierte noch immer. Louisa atmete langsam und tief durch. Das schien zu helfen.
Wie viel Zeit war verstrichen? Sie rappelte sich wankend auf und drehte sich langsam um. Sie versuchte, Einzelheiten ihrer Umgebung auszumachen. Das entfernte Licht einer Lampe fiel durch drei Eisenstangen, mit denen die Öffnung in einer massiven Holztür vergittert war. Louisa befand sich in einem winzigen Raum mit einer niedrigen, gewölbten Decke. Es gab keine Fenster. Es musste ein uralter Lagerraum sein, entschied Louisa, oder eine Nonnenzelle. Nach dem Steinfußboden und dem Mauerwerk zu urteilen, stammte die Kammer aus dem Mittelalter.
Louisa ging zur Tür und drehte ohne große Hoffnung den Knauf. Er bewegte sich nicht. Das Eisen unter ihren Fingern fühlte sich kalt an, und sie bemerkte, dass sie einen Handschuh verloren hatte. Sie erinnerte sich vage daran, ihn ausgezogen zu haben, um Digbys Puls zu fühlen.
Die Öffnung in der Tür befand sich auf Augenhöhe. Louisa spähte zwischen den Gitterstäben hindurch und erblickte ein weiteres Steingewölbe mit niedriger Decke. Die Lampe, die die einzige Lichtquelle war, stand auf einem niedrigen Tisch in der Mitte. Sie spendete gerade genug Licht, um eine geschlossene Tür in der einen Wand und ausgetretene Steinstufen einer schmalen Stiege in der gegenüberliegenden Wand erkennen zu lassen.
Louisa wollte sich gerade abwenden, um ihre Zelle genauer in Augenschein zu nehmen, als sie das leise Echo von Ledersohlen auf Stein hörte. Wieder kroch Angst in ihr hoch. Jemand kam die Treppe herunter. Als Erstes sah sie die Röcke eines schicken schwarzen Kleides und ein Paar modische schwarze Stiefeletten.
Die Frau erreichte den Fuß der Treppe und betrat die äußere Kammer. Jetzt war auch ein kleiner schwarzer Hut zu sehen, der auf einem vollen Schopf goldenen Haars saß. Ein dichter schwarzer Schleier verhüllte ihre Züge.
Louisa atmete tief durch. »Victoria Hastings, wenn ich mich nicht täusche? Oder sollte ich Sie Madame Phoenix nennen?«
Die Frau hielt kurz inne, erschrocken darüber, erkannt worden zu sein. Dann glitt sie über den Steinboden zu der Zellentür. Sie hob gelassen mit einer schwarz behandschuhten Hand ihren Schleier und schlug ihn über die Krempe des Huts. Victoria besaß ein Engelsgesicht, doch das verderbte, erbarmungslose Funkeln in ihren blauen Augen war durch und durch teuflisch.
»Ich bedauere, dass es nötig war, Sie zu entführen«, sagte Victoria, »aber daran sind Sie selbst schuld. Sie sind der Wahrheit zu nahe gekommen, Mrs. Bryce. Oder sollte ich Sie I. M. Phantom nennen?«
44
Das »Geschlossen« -Schild hing im Schaufenster von Digbys Laden. Anthony beachtete es nicht und rüttelte an der Tür. Sie war abgeschlossen. Er holte den Satz Dietriche hervor, den er immer in seinem Stiefel bei sich trug, und machte sich ans Werk. Einen Augenblick später stand er im dunklen Inneren der Buchhandlung.
Eine Glocke schellte, als er die Tür öffnete.
»Wer ist da?«, rief eine ängstliche Stimme aus den Wohnräumen über dem Laden. »Verschwinden Sie. Das Geschäft ist für heute geschlossen.«
Anthony ging durch den Laden und blieb am Fuß der Treppe stehen.
Digby spähte herunter. Er wirkte nervös.
»Tut mir leid, Sie zu stören«, sagte Anthony. »Ich bin es, Stalbridge. Sie erinnern sich bestimmt an mich.
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