Riskante Nächte
musterte ihn einen Moment lang forschend und atmete dann tief durch. »Na gut. Ich bin bereit, meinen Teil zu tun, sobald du ›los‹ sagst.«
»Los«, sagte Anthony.
Marcus beugte sich über die Ladefläche des Wagens und langte unter die Plane. Er holte einen Korb hervor, in dem sich vier Flaschen mit dem Etikett eines sehr teuren Brandys befanden. Ohne ein weiteres Wort ging er zum Lieferanteneingang des Bordells.
Anthony sah, wie die Tür aufging. Eine gehetzt aussehende Frau erschien.
»Ich bringe den Brandy, den Madame Phoenix für ihre Ehrengäste heute Abend bestellt hat«, verkündete Marcus. Seine Nachahmung eines Arbeiterakzents war recht passabel.
Die Frau runzelte die Stirn. »Mir hat niemand was von einer Brandylieferung gesagt.«
Marcus zuckte die Achseln. »Wenn Sie den Brandy nicht wollen, soll’s mir recht sein. Mein Dienstherr sagt, er setzt die Flaschen am Monatsende auf Madame Phoenix’ Rechnung. Vielleicht merkt sie ja nicht, dass sie für Brandy bezahlt, den sie gar nicht bekommen hat.«
Die Frau zögerte, doch dann hielt sie Marcus die Tür auf. »Na schön. Bringen Sie den Brandy in den Salon. Beth wird schon wissen, was damit passieren soll.«
Marcus verschwand im Haus.
Anthony sah auf die Uhr. Er musste nicht lange warten, bis die ersten Rauchschwaden aus einem offen stehenden Fenster im oberen Stockwerk drangen. Fast augenblicklich erschollen Schreie und aufgeregte Rufe.
»Feuer. « Der Schrei kam von irgendwo aus dem Inneren des Hauses.
Anthony wusste, der Rauch würde bald durch alle Flure des Hauses ziehen und Panik verbreiten.
Schon kurz darauf stürzten Leute aus der Hintertür in die Gasse. Köchinnen und ihre in Schürzen gekleideten Gehilfinnen waren die Ersten. Ihnen folgten drei Dienstmädchen in knappen Uniformen. Sie versammelten sich aufgeregt vor dem Haus, redeten laut durcheinander und schauten zu den Rauchschwaden hinauf, die aus den Fenstern im oberen Stock quollen.
»Jemand sollte die Feuerwehr rufen«, sagte die Köchin.
»Madame Phoenix will sicher nicht, dass ihre Gäste in eine peinliche Lage gebracht werden«, entgegnete ein vollbusiges Dienstmädchen. »Es sind einige sehr bedeutende Gentlemen im Haus.«
»Sie will aber sicher auch nicht mit anschauen müssen, wie das Haus in Schutt und Asche geht«, mischte sich jemand anderes ein.
»Ich bin sicher, dass sie gleich selbst herauskommen wird«, sagte das Dienstmädchen. »Wir sollten ihr die Entscheidung überlassen, was wir tun sollen.«
Rauch wehte aus einem weiteren Fenster. Neue Schreie hallten durch die Nacht.
Anthony ging zum Lieferanteneingang. Niemand würdigte ihn eines Blickes oder stellte ihn zur Rede, als er das Gebäude betrat.
Roberta Woods hatte ihm einen groben Grundriss des Etablissements aufgezeichnet. Ihm lagen die Beschreibungen einer Frau zugrunde, die nur als »Daisy« bekannt war. Anthony hatte den Grundriss studiert; das beste Versteck für eine Gefangene war der alte Keller. Laut der jungen Frau, die jüngst aus dem Bordell weggelaufen war, hatte Madame Phoenix den Bediensteten verboten, den Keller zu betreten, wenn es ihnen nicht ausdrücklich befohlen wurde.
Anthony ging den Flur entlang auf der Suche nach der Tür zur Kellertreppe. Ein Mann mittleren Alters stürmte an ihm vorbei, das Gesicht krebsrot und nervös verzogen. Sein offenes Hemd und die gelöste Krawatte flatterten in der Zugluft. Anthony duckte den Kopf und drehte sein Gesicht zur Wand, doch die Sorge, der Earl von Pembray könne ihn erkennen, war unbegründet. Pembrays einziger Gedanke galt der Flucht.
Nach allem, was Anthony über die Respekt einflößende Lady Pembray gehört hatte, war das auch klug so. Der Lady missfiele es ganz sicher, wenn der Name ihres Gatten im Zusammenhang mit dem Brand in einem berüchtigten Bordell in den Zeitungen erwähnt würde.
Zwei weitere halb entkleidete Männer und drei Frauen in feinen, durchscheinenden Morgenröcken rannten an Anthony vorbei. Niemand beachtete ihn.
Er fand die Kellertür genau dort, wo Daisy es beschrieben hatte. Die Tür war abgeschlossen, wie sie gesagt hatte. Er holte seinen Satz Dietriche hervor und machte sich ans Werk.
47
Entfernte leise Hilferufe drangen an Louisas Ohr. Sie stand vom Boden auf, ging zur Zellentür und legte die Hände um die Eisenstangen. Auf den Steinstufen ertönten eilige, schwere Stiefelschritte.
Quinby stürzte aus der Dunkelheit des Treppenaufgangs. Er trug wie immer seinen Mantel, und Louisa konnte im
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