Riskante Versuchung
verspürte das schon vertraute aufregende Kribbeln. Sie musste sich zwingen, sich noch einmal zu Pete umzudrehen. „Sie müssen dann die Musik vom Band abstellen.“
Pete nickte und deutete mit dem Kopf Richtung Rob und Kelsey. „Ist das Ihre Familie?“
„Meine Tochter“, bestätigte Jess. „Und ein … Freund.“
Der Barkeeper nickte und sah erneut zu Rob. Jess wurde das Gefühl nicht los, dass diesen seltsamen silbrigen Augen nichts entging. „Sagen Sie mir Bescheid, wenn ich die Musik ausstellen soll“, meinte Pete und wandte sich an einen Gast am Tresen.
Jess ging zu Rob und Kelsey. Warum kam ihr dieser Pete nur so merkwürdig vor? Sicher, seine Augen hatten eine ungewöhnliche Farbe, und er lächelte nicht sehr viel. Aber das war es nicht. Irgendetwas anderes stimmte nicht mit ihm.
„Gibt es ein Problem?“, erkundigte Rob sich und stand auf, als sie sich dem Tisch der beiden näherte.
„Ach, vermutlich nur Lampenfieber“, antwortete Jess und winkte ab. Sie atmete tief ein und wieder aus und zwang sich zu einem Lächeln. „Ob Sie es glauben oder nicht, auch nach all den Jahren, in denen ich nun schon auftrete, leide ich manchmal noch immer daran.“
„Ich habe mal ein Buch gelesen“, meinte Rob, „in dem stand, dass, ob man zu einer Sache positiv oder negativ steht, davon abhängt, wie man sie nennt. Manche Leute haben Lampenfieber und leiden darunter, während andere es einfach nur als Aufregung bezeichnen. Es beflügelt sie, statt sie zu lähmen. Dabei handelt es sich um das gleiche nervöse Kribbeln, um die Schmetterlinge im Bauch. Wie die Menschen auf eine Sache reagieren, hängt davon ab, wie sie dazu stehen.“
Skeptisch zog Jess die Augenbrauen hoch.
„Sie können mir nicht ganz folgen, oder?“, fragte er.
„Doch, das kann ich“, widersprach sie. „Und ich stimme Ihnen vollkommen zu. Sie haben recht. Normalerweise nenne ich das auch nicht Lampenfieber.“ Sie schaute über das Geländer hinaus auf das ruhige Wasser des Hafens. „Aber heute Abend bin ich aus irgendeinem Grund besonders nervös.“ Erneut sah sie ihn an. „Ich glaube, ich bin nervöser, weil ich mit Ihnen hier bin, und nicht, weil ich gleich auftrete.“
Ehe er darauf etwas erwidern konnte, wechselte sie das Thema. „Sie lesen viel, nicht wahr?“
Rob bejahte und war froh, sich wieder auf sicherem Terrain zu bewegen. „Ich lese, wenn ich nicht arbeite.“ Allerdings nicht freiwillig, dachte er. Obwohl er die Worte nicht laut aussprach, wusste er, dass Jess in seinem Gesicht lesen konnte wie in einem seiner Bücher.
„Ich mag Bücher“, sagte er, und es klang fast nach einer Rechtfertigung. Nur würde er eben nicht den ganzen Abend lesen und sich in Fantasiewelten flüchten, wenn er die Wahl hätte.
Aber die hatte er schon lange nicht mehr …
Jess beobachtete ihn. Ihre Augen verrieten Mitgefühl, ihr Blick war unendlich tiefgründig, freundlich und sanft.
„Warum verstecken Sie sich?“, fragte sie.
Sein erster Gedanke war, dass sie es wusste. Aber wie sollte sie? Sie sprach im übertragenen Sinn und meinte es nicht wörtlich. „Ich betrachte es eher als den Versuch, möglichst nicht aufzufallen“, erklärte er. „Oder sogar unsichtbar zu sein.“
„Warum?“ wollte sie wissen.
Warum? Was konnte er ihr sagen? Er hatte ihr schon zu viel erzählt. Wieder einmal. Was hatte diese Frau nur an sich, das ihn dazu brachte, seine selbst auferlegten Regeln immer wieder zu brechen?
Jess schien nach Antworten in seinem Gesicht zu suchen. Einen Moment lang vergaß er seine ständige Wachsamkeit, sodass sie eine Vielzahl an Emotionen in seiner Miene lesen konnte. Doch gleich darauf wurde sein Ausdruck wieder verschlossen.
Unsichtbar. Das war eine gute Umschreibung für seine unauffällige Art. Nur hatte Jess dieses Verhalten von Anfang an durchschaut. Aber offenbar war sie die Ausnahme. Nicht jeder würde sich schließlich die Zeit nehmen, den wahren Mann hinter der Fassade zu suchen.
„Aber was ist“, sagte sie sanft, „wenn Sie gerade damit beschäftigt sind, unsichtbar zu sein, und die Richtige - Ihre Seelenverwandte sozusagen - kann Sie nicht sehen? Was, wenn sie einfach an Ihnen vorbeigeht?“
Diese Unterhaltung war längst aus dem Ruder gelaufen. Rob zwang sich zu einem Lächeln. „Darüber mache ich mir keine allzu großen Sorgen.“ Er versuchte locker zu klingen. „Ich gehe jetzt an die Bar. Soll ich Ihnen etwas zu trinken mitbringen?“
Jess lehnte ab, und Rob schaffte es gerade noch
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