Risotto Mit Otto
keinen Fahrstuhl?«, fragte ich, kaum dass wir auf dem langen Bahnsteig standen. An italienischen Bahnhöfen gibt es zwar auch so gut wie nie welche, aber von diesem perfekt durchorganisierten Land hätte ich einen solchen Komfort schon erwartet. Der Schreck, mit meinem Gepäck die Treppe hinunter- und auf der anderen Seite des kleinen, mit bunten Graffiti besprühten Tunnels gleich wieder hinauflaufen zu müssen, hatte mich meine Sprache wiederfinden lassen. Hier war es nicht ganz so sauber wie am Hauptbahnhof, dennoch wirkte die Gegend recht gepflegt und ruhig auf mich.
»Wenn ich wieder deinen Koffer nehme, dann schaffen wir das schon. Es ist nicht weit. Siehst du das blaue Haus da unten?« Beate deutete an ein paar winzigen Holzhütten mit Rasenvorplatz vorbei auf einen leicht abschüssigen Weg. »Darin wohnen wir.«
»Und hier?«, fragte ich, wobei ich in Richtung der winzigen Bretterbuden nickte. »Wohnen da etwa auch Leute? Ich dachte immer, die Deutschen bevorzugen Häuser aus Stein und Beton.«
»Nein, nein«, rief sie amüsiert. »Das ist eine Kleingartenkolonie.«
»Aha«, sagte ich nur und beschloss, mich fürs Erste nicht weiter mit dieser seltsamen Form des deutschen Kolonialwesens zu befassen. Ich kannte nur die Ferienkolonien an der Adriaküste, in der im Sommer immer ganze Horden von Kindern und Jugendlichen ihren Urlaub verbrachten. Das hier sah mir eher nach Strafkolonie aus. Wahrscheinlich war das Gefängnis gleich um die Ecke, und die Gefangenen bekamen jeder eine Nagelschere in die Hand gedrückt, um die Grashalme einzeln zu stutzen. Oder warum sah der Rasen hier perfekter aus als auf dem Green eines Golfplatzes? Die Strafe war mit Sicherheit erst dann verbüßt, wenn der Rasen an jeder beliebigen Stelle des Grundstücks, das deutlich größer war als die darauf befindliche Hütte, exakt gleich lang war – also nie.
Oje, wo war ich da nur gelandet?
Zeit zum Nachdenken blieb mir allerdings nicht, denn im nächsten Moment standen wir schon vor einer schönen, alten Haustür aus dunklem Holz, und Beate steckte den Schlüssel ins Schloss. Zum Glück war ihre WG gleich im ersten Stock. Ich hätte mein Gepäck freiwillig keinen Meter weiter geschleppt, auch wenn die alten, knarzenden Holztreppen nicht sonderlich hoch waren.
»Hallooooo!«, rief Beate gedehnt und warf sich mit der Schulter gegen die weiße Tür, von der an mehreren Stellen die Farbe abblätterte. »Jemand dahaaaa?«
Ich sah mich in dem mehrere Meter langen Flur um, in dem sich ein mit Büchern und Ordnern überfülltes Regal an das nächste reihte und der ohnehin schon enge Gang durch allerlei Gerümpel, Kisten, Schuhe, Schirme, Taschen und was weiß ich nicht noch alles zusätzlich verschmälert wurde. Das entsprach jetzt nicht ganz dem minimalistischen Einrichtungsstil, den ich bevorzugte, aber ich wollte mal nicht undankbar sein. Immerhin hatte mich Beate vor der italienischen Mafia bewahrt, und das würde ich ihr bis in alle Ewigkeit hoch anrechnen.
Aus der Küche stürmte eine kleine Person in Jeans und T-Shirt mit dunklen Korkenzieherlocken und begrüßte Beate freudig. Dann sah sie sich fragend nach mir um. »Hallo, ich bin Isabelle«, sagte sie mit einem herzlichen Lächeln, bei dem sich zwei Grübchen in ihren Wangen zeigten, und streckte mir die Hand hin. Ihre hellen Augen funkelten schelmisch.
»Angela«, sagte ich nur und schielte unsicher auf die Hand, die in der Luft zu verharren schien.
Isabelle konnte unmöglich davon ausgehen, dass ich sie ergriff und schüttelte. Ich musste wieder an meinen Zusammenstoß mit dem Vollidioten am Bahnhof denken, der mich gesiezt hatte. Die Deutschen waren schon seltsam, der unhöfliche Unbekannte genauso wie Isabelle. Wir waren hier doch nicht bei einem offiziellen Staatsempfang, sondern unter Studenten, und über fünfzig schien sie mir auch nicht zu sein. Wenn ich in dem Moment schon gewusst hätte, dass sich in Deutschland selbst Kinder und ihre Eltern oder Geschwister mit dieser förmlichen, unnahbaren Geste begrüßen, hätte ich auf der Stelle meine Rückfahrkarte eingelöst. Aber noch ahnte ich nichts und hob daher nur die Hand auf Schulterhöhe, um huldvoll zurückzugrüßen wie Victoria von Schweden bei der Kutschfahrt durch Stockholm anlässlich ihrer Hochzeit.
Isabelle war von meiner Reaktion mindestens so irritiert wie ich von ihrer, doch ehe die Situation mal wieder peinlich für mich enden konnte, brach Beate das Eis, indem sie sagte: »Ich hab mir gedacht,
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