Ritter 01 - Die Rache des Ritters
Vielleicht war er das noch immer. Aber irgendetwas hatte ihn ernüchtert in dem Jahr, in dem er Penthurst verlassen hatte, etwas, das ihn mit plötzlicher, eindringlicher Klarheit hatte erkennen lassen, wie dumm blinder Zorn und ungezügelte Gewalt waren.
Er war betrunken gewesen und hatte sich in einer Schänke mit einem anderen Mann um irgendeine Frau gestritten, die er gerade kennengelernt hatte. Genau genommen hatte die Frau wenig zu schaffen gehabt mit Gunnars Wunsch, sich zu prügeln. Irgendetwas an der Art, wie der Mann ihn angesehen hatte – die Art, wie er sich benahm – , hatte Gunnar an d’Bussy erinnert und sofort in ihm den überwältigenden Drang ausgelöst, den Ritter in Stücke zu schlagen. Der Mann beging den Fehler, der Hure auf Gunnars Schoß zuzublinzeln, und das war genau der Vorwand, den Gunnar brauchte. Und der ihn handeln ließ.
Einige Augenblicke später war er so gefangen in seinem sinnlosen Zorn, dass er gar nicht bemerkte, wie es in der Schänke plötzlich still wurde, als ein Edelmann mit seinem Gefolge eintrat. Er hörte auch nicht die Wette, die gegen ihn abgeschlossen wurde, während dieser Adlige nur wenige Schritte von der Prügelei entfernt sein Essen genoss. Erst als sein Gegner unter ihm lag, blutend und um Schonung flehend, war Gunnar fähig, innezuhalten und seine Wut zu bezähmen. Er hörte das Klirren eines mit Münzen gut gefüllten Geldbeutels, der auf einen Tisch geworfen wurde, das Kratzen einer Bank über den Boden, das Zuschlagen der Eingangstür.
Doch da war es schon zu spät.
Jemand klopfte ihm auf die Schulter und schob ihm einen Krug hin. »Hier, der geht auf d’Bussy.«
Gunnar fuhr herum, sicher, dass er sich verhört haben musste. »Was – ?«
»Baron d’Bussy«, bestätigte der Wirt. »Er hat gesagt, dass Ihr in seinen Augen wie ein Mann voller Todessehnsucht ausseht, und er hat gegen Euch gewettet. Zwölf Deniers hat er an mich verloren. War nicht allzu glücklich, sein Geld zu verlieren. Ich kann Euch sagen, dass – «
Aber Gunnar hörte nicht mehr zu. Er schob den Krug zur Seite und rannte zur Tür, stieß sie auf und stürzte hinaus in den mitternächtlichen Regen. Er kam zu spät. Die Hufschläge von d’Bussys Reiterschar waren nur noch von ferne zu hören, im Sturm kaum noch auszumachen. Sein Feind war in greifbarer Nähe gewesen, und jetzt war er fort. Eine verpasste Gelegenheit, eine Gelegenheit, die sich vielleicht nie wieder ergeben würde.
In jenem Moment kam das zornerfüllte Tier in Gunnar zur Besinnung. Jetzt war es eine weit zurückliegende Erinnerung, ein Biest, gehalten von festen Zügeln, denn zornig zu sein bedeutete zu fühlen, und zu fühlen bedeutete schwach zu sein, verletzbar zu sein und Fehler zu machen. Und deshalb wollte Gunnar nichts mehr fühlen und erkor die Gefühllosigkeit zu seiner Meisterin, seiner Maxime.
Zumindest wiederholte er sich das immer wieder in seinem Kopf, während der Siegelring seines Vaters ihm in die Haut seiner geballten Faust schnitt.
Merrick starrte Gunnar an, als dieser endlich den Kopf hob und seinen Blick erwiderte. Sein Ton war nachdenklich geworden, mitfühlend. »Deine Familie zu verlieren, dein Heim … es kann nicht leicht für dich gewesen sein, besonders da du noch so jung warst.«
Es war nicht leicht gewesen. Aber Gunnar wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Er musste nicht an den schwachen, schluchzenden Jungen erinnert werden, dem d’Bussy an jenem Tag auf Wynbrooke begegnet war, oder an den Narren, der den Baron sich nicht nur einmal, sondern zweimal durch die Finger hatte schlüpfen lassen: in der Schänke und dann wieder bei dem Turnier. »Die Vergangenheit ist … «
Er wollte sagen, dass die Vergangenheit vergessen und vorbei sei, aber die Wahrheit war weit davon entfernt. Die Vergangenheit würde lebendig sein, bis d’Bussys Leben ein Ende gesetzt worden war. »Vergangenheit ist Vergangenheit«, sagte Gunnar stattdessen brüsk, dann stürzte er den Rest Wein in seinem Becher in einem großen Schluck herunter und erhob sich, war bereit zum Aufbruch.
Merrick versorgte ihn mit einem großen Kanten Käse und einem Laib Brot für den langen Ritt, der am nächsten Morgen anstand. Den Ring seines Vaters zu sehen hatte Gunnar unvermittelt ernüchtert, deshalb nahm er das Angebot des alten Mannes ohne Zögern an, ihm auch einen Schlauch Wein mitzugeben. Erst nachdem er aufgestanden war, begriff Gunnar, dass er im Kopf ganz klar war, sein Körper aber sein Maß an Wein gehabt
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