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Ritualmord

Titel: Ritualmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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Wellington angereist, um sich eine Show anzusehen, und der Wagen wurde ihnen gestohlen, als sie ihn vor dem Bristol Hippodrome parken wollten. Der Carjacker trug eine rote Skimaske und R&B-Jeans. Er wartete, bis die Frau ausgestiegen war und der Mann die Handbremse anzog, bevor er zuschlug.
    Er zerrte den Fahrer auf den Asphalt heraus, brach ihm das Handgelenk, sprang in den Wagen und fuhr mit einer Geschwindigkeit von dreißig Meilen pro Stunde davon. Dabei verursachte er Schäden in Höhe von zehntausend Pfund an anderen Fahrzeugen, die auf dem Parkplatz standen. Er nahm die Straße nach Clifton, und niemand wusste, wie weit er gekommen wäre, wenn er mit dem Wagen nicht auch einen Insassen entführt hätte. Auf dem Rücksitz saß die sechsjährige Tochter des Ehepaars. Als er es bemerkte, stellte er den Wagen sofort ab und ließ ihn mit laufendem Motor in der Whiteladys Road stehen. Das Kind blieb unversehrt. Er verschwand auf Nimmerwiedersehen im grauen Nachmittag.
    Flea hatte sich beiläufig für den Fall interessiert, weil sie diesen Parkplatz manchmal auch benutzte. Sie erkundigte sich bei einem Freund aus der Abteilung für Informations- und Datenanalyse nach den Einzelheiten, und als sie las, was passiert war, setzte sich ein Satz in ihrem Kopf fest: Das Kind saß auf einem erhöhten Kindersitz. Flea streifte in den nächsten paar Tagen auf Parkplätzen umher, schaute in jeden Renault Scenic und suchte nach solchen Kindersitzen, bis eines für sie feststand: Aus welcher Richtung der Typ auch gekommen war, er musste 
    das Kind gesehen haben, bevor er den Wagen raubte. Und als sie sich die Zeugenaussagen vornahm, stellte sie fest, dass das Kind ausgesagt hatte, die ersten Worte des Täters seien gewesen: »Hör auf mit dem blöden Geheule.« Das klang nicht nach jemandem, der überrascht war, ein Kind im Wagen zu finden: »Hör auf mit dem blöden Geheule…«
    Was war, wenn sie sich irrten? Die Polizei nahm an, der Carjacker habe den Wagen abgestellt, als er das Kind entdeckte. Aber wie sah es aus, wenn man die Sache umdrehte? Was war, wenn die Anwesenheit des Kindes ihn nicht veranlasst hatte, den Wagen abzustellen ? Sondern wenn das Kind – und bei dem Gedanken überlief es sie eiskalt – ihn überhaupt erst veranlasst hatte, den Wagen zu stehlen?
    Der Gedanke, er habe sich den Wagen wegen des kleinen Mädchens ausgesucht und die Entführung abgebrochen, weil ihn etwas erschreckt hatte, wurde zur Besessenheit. Sie fing an herumzustöbern, Fragen zu stellen, Theorien anzubieten. Sie freundete sich mit einem Officer für proaktive Ermittlungen in der Abteilung für Fahrzeugstraftaten in der Trinity Road an, besuchte ihn und wollte wissen, was sie davon hielten. Dann bekam sie eines Tages einen Anruf von ihrem Inspector. Es war das erste Mal, dass sie in seinem Büro stehen musste, statt bequem zu sitzen. Er kam sofort zur Sache. »Ich sage es nur einmal, und dann werden wir so tun, als hätte ich es nie gesagt. Marley, ziehen Sie Ihren Kopf wieder ein.«
    Und so hatte Flea gelernt, sich zurückzuhalten. Obwohl das weinende kleine Mädchen auf dem Rücksitz des Minivan sie verfolgte, mischte sie sich nie wieder in Angelegenheiten ein, die sie nichts angingen. Sie schloss einen Pakt mit sich selbst: Wenn sie sich das nächste Mal dabei ertappte, dass sie die Ermittlerin spielte, würde sie sich ins Trainee-Programm der Kriminalpolizei eintragen. Aber das würde natürlich das Ende des Tauchens bedeuten. Und weil sie das Tauchen niemals aufgeben würde, blieb sie bei ihrem Job: Sie zog Leichen ans Licht, 
    suchte die Messer und Schusswaffen, die für die Leichen verantwortlich waren, und stand in vorderster Linie, wenn die Polizei körperlichen Einsatz verlangte. Aber eins tat sie nie: Sie dachte nicht über die Fälle nach. Keine Neugier, keine Theorien. Das war die Regel.
    Und deshalb machte Flea sich an diesem Abend, als sie auf schmalen Landstraßen am nördlichen Rand von Bath entlangfuhr, vorbei an der illuminierten Abtei und den vor dem dunklen Hintergrund der Berge schimmernden Kirchtürmen, absichtlich keine Gedanken darüber, wie es kam, dass zwei abgeschnittene Hände unter dem Eingang des Restaurants Moat vergraben worden waren. Stattdessen dachte sie an Tig und fragte sich, ob er der Einzige war, der nachvollziehen konnte, was sie wegen ihrer Eltern empfand. Ob er ihre Schuldgefühle verstehen konnte, und ob das, was er der alten Lady angetan hatte, ein schwarzes Loch in ihm hinterlassen hatte,

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