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Ritualmord

Titel: Ritualmord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mo Hayder
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das immer noch existierte. Sie dachte noch an ihn, als sie schon zu Hause war, und hätte für den Rest des Abends vielleicht keinen weiteren Gedanken an die Hände verschwendet, wäre da nicht diese zufällige Entdeckung im Arbeitszimmer ihres Vaters gewesen.
    Es war schon spät; das Cottage lag im Dunkeln, und nur die kleine Laterne über der Haustür zeigte ihr den Weg, als sie den Ford Focus von der Straße auf den Kiesweg lenkte. Die Glyzine, die sich um die Lampe rankte, lockerte das Gemäuer über der Haustür, und weil ihr das Geld für einen Maurer fehlte, hatte sie vor zwei Monaten mit einem Speisvogel voller Mörtel selbst auf die Leiter steigen müssen. Aber sie hatte den Mörtel zu hart gemischt, und jetzt, nur zwei Monate später, zog sich ein langer, deprimierender Riss durch den weichen Bath-Stein über dem Türsturz.
    Sie schloss die Tür auf, nahm die Post und sortierte sie auf dem Weg in die Küche. Obenauf lag ein Exemplar der örtlichen 

    Immobilienzeitung mit einer panikmacherischen Schlagzeile in Rot: Grundstückspreise im zweiten Quartal gefallen. Darunter klebte ein rosa Post-it mit einem handschriftlichen Satz: »Aber wir würden natürlich bei unserem ursprünglichen Angebot bleiben. Beste Grüße, Katherine Oscar.«
    Vor Jahrhunderten hatte der Garten der Marleys nicht zum Cottage gehört, sondern zum benachbarten Charlcombe Hall. Jetzt wollten Katherine und Charles Oscar, die neuen Eigentümer von Charlcombe, den Garten wieder instand setzen, und er sollte in einem Stück von der Rückseite ihres überdimensionierten, überladenen Hauses bis hinunter ins Tal reichen. Manchmal dachte Flea, es sei klug, ihren Teil des Geländes zu verkaufen und damit ein wenig Kapital flüssig zu machen. Nach dem Unfall hatte Thom nicht »bei den Geistern« bleiben wollen, und so hatten sie sich darauf geeinigt, dass sie das Haus behalten und ihm ein Darlehen aus ihrem Anteil der Lebensversicherung geben würde, die nach den vorgeschriebenen sieben Jahren ausgezahlt werden sollte. Das Geld der Oscars würde ihr das Leben erleichtern.
    Aber nein. Sie knüllte die Zeitung zusammen und stopfte sie in den Bauch des Küchenherds. Sie würde nicht nachgeben, und wenn es ihr noch so schwerfiel, das Haus ihrer Eltern zu unterhalten. Näher konnte sie ihrer Kindheit nicht sein – und obwohl es sie vielleicht schwach machte, brauchte sie es. Sie war hier geboren und aufgewachsen; sie kannte jeden Zentimeter des alten Rasens, der sich terrassenförmig nach unten senkte, vorbei an Teichen und einem See, bis er sich irgendwo in den Feldern verlor. Sie war groß geworden mit diesem Blick auf Bath in der Ferne, auf die Dunstschleier, die an einem Herbstmorgen durch das Tal zogen und aus denen nur noch die wie versunkene Bäume in einem See stehenden Kirchtürme ragten.
    Sie wartete, bis die Zeitung brannte; dann schleuderte sie die Schuhe von den Füßen und ging in Dads Arbeitszimmer. Im 
    elektrischen Licht wirkten alle seine Sachen ein wenig starr, als hätte sie ihnen eine unnatürliche Position aufgezwungen. Kaisers Kisten standen unberührt in einer Reihe unter dem Tisch. Sie ging zum Bücherregal und fuhr mit dem Finger über die Buchrücken, bis sie die gebundene Dissertation fand, die ihr Vater in Cambridge geschrieben hatte. Sie zog sie heraus, klappte sie auf und warf einen Blick auf den inneren Umschlagdeckel. Es war typisch für Dad, in Bücher hineinzuschreiben; er verehrte sie nicht, er benutzte sie. Ein gutes Buch, sagte er, war eins, das der Leser ergänzt hatte. Die Innenseite des Umschlagdeckels seiner Dissertation war voller Kritzeleien – winzige Notizen, die er für sich selbst gemacht hatte. Sie stellte sich unter die Lampe, las die Liste und suchte nach etwas, irgendetwas, das eine Zahlenreihe für den Safe sein konnte.
    Als sie keine Zahlen fand und nicht mehr wusste, wo er die Kombination sonst versteckt haben konnte, schob sie die Dissertation zurück ins Regal, hockte sich auf den Boden und zog die mit breiten Paketklebestreifen verschlossenen drei Kisten mit Kaisers Sachen heraus. Mit der scharfen Kante eines Lineals vom Schreibtisch ihres Vaters schlitzte sie die Klebstreifen auf und nahm den Inhalt aus den Kartons: drei Zeitschriftenstapel, mit Gummibändern zusammengehalten, eine Skizze, die etwas darstellte, das aussah wie ein afrikanischer Stammestanz, zahllose Bücher über Religion und Psychologie – und alles bedeckt mit Gipsstaub. Irgendwann mussten sich die Sachen in Kaisers

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