Ritus
Kreischen der Bestie laut und deutlich zu hören war.
Die Äbtissin sah erste Flammen im Dormitorium auflodern. Auch hinter den Scheiben ihres Arbeitszimmers flackerte es zuerst ein wenig, dann wurde der grelle Lichtschein immer intensiver.
Jetzt oder nie. Gregoria atmete tief ein und bekreuzigte sich, sprach zu ihrem Gott: Beschütze mein Leben, und ich schwöre bei meiner unsterblichen Seele, dass ich nach Rom reise und dieser ungeheuerlichen Sache in deinem Namen auf den Grund gehe. Der Verantwortliche muss gestellt und bestraft werden. Sie lief im Schatten der Kirche los. So leise es ihr möglich war, versuchte sie zur Pforte zu gelangen. Gott, Maria und Gregorius standen vorerst auf ihrer Seite.
Bis der Teufel seine Hand ins Spiel brachte.
Sie hatte die Hälfte der Distanz geschafft, als ihr Fuß an einem Pflasterstein hängen blieb; sie machte einen Ausfallschritt, um nicht zu stürzen, und das verursachte ein Geräusch, das den vier Männern nicht verborgen blieb.
»Die Bestie!«, rief einer. Die Häscher des Legaten schossen auf sie, dem vermeintlichen Loup-Garou. Gregoria warf sich auf den Boden und legte die Hände schützend über den Kopf, während die Kugeln über sie hinwegsurrten und Löcher in die Kirchenmauer schlugen. Abgeplatzte Granitstückchen prasselten auf ihre Haut.
Ein lauter Schrei brachte sie dazu, den Kopf zu heben und nach den Schützen zu sehen.
Auf dem Wagen saß die Bestie. Offensichtlich hatte niemand sie auf ihrem Weg dorthin bemerkt. Sie kauerte sich zum Sprung zusammen und katapultierte sich gegen den hintersten der Männer, riss ihn zu Boden und biss ihm noch vor dem Aufprall den Kopf ab. Sie knurrte zufrieden.
Die anderen vier wichen zurück und luden hektisch ihre Musketen nach. Sie brüllten durcheinander, um die Verstärkung auf die Kreatur aufmerksam zu machen, die sich wider Erwarten bereits im Hof befand. Ihre Gegnerin erlaubte ihnen weder Flucht noch Gegenwehr. Die rechte Klaue packte die Muskete des Toten am Lauf und schlug sie dem am nächsten Stehenden wie eine Keule auf den Kopf. Knirschend zerbarst der Schädel, dem Mann schoss das Blut fontänenartig aus den Ohren und der Nase.
Die Bestie richtete sich vollends auf und attackierte weiter, zerfetzte einem im Vorbeigehen die Bauchdecke mit einem präzisen Hieb, ehe sie dem zweiten mitten ins Gesicht biss und die Muskete wegschleuderte, nur um sofort den letzten der Männer mit allen vieren anzuspringen und unter sich zu begraben. Die Zähne in der langen Schnauze gruben sich an den erhobenen Armen des Mannes vorbei in den Hals; schmatzend legte sie die Kehle frei und soff das sprudelnde Blut.
Gregoria bekreuzigte sich und konnte sich trotz aller Grausamkeit nicht abwenden.
Die Pferde vor der Kutsche wieherten in wilder Panik und stemmten ihre Hufe mit aller Kraft in den Boden. Sie sprengten die angezogenen Bremsen des Wagens und begannen einen aussichtslosen Fluchtversuch vor der Bestie und dem prasselnden Feuer. Die Flammen schlugen aus dem Schlafsaal, der Spinnerei und dem Äbtissinnenhaus und sandten Funken in den Himmel.
Die Bestie ließ von der Leiche ab und machte sich einen Spaß daraus, die Pferde zu hetzen. Sie rannte heulend und anstachelnd auf allen vieren hinter der Kutschte her, bis die Tiere in ihrer Not versuchten, durch die Pforte zu brechen. Und daran scheiterten.
Die Pferdeleiber prallten gegen das Tor, die schwere Kutsche rollte von hinten gegen sie und quetschte sie zu Tode.
Gregoria schaute entsetzt zu, dann besann sie sich und wollte davonrennen. Weg, nur weg von diesem Inferno. Klare Gedanken fasste sie nicht mehr, es war zu viel für sie.
Da schob sich die Bestie vor sie und umschloss ihren Hals mit der rechten, bluttriefenden Pfote. Die Krallen bohrten sich leicht in ihre Haut.
Gregoria versteinerte und starrte in die rot glühenden Augen, ihre Lippen bewegten sich lautlos und murmelten ein Ave Maria nach dem anderen. Sie konnte es selbst nicht glauben, als das boshafte Funkeln vor ihr erlosch. Die Kreatur legte den Kopf schief und stellte die kleinen Ohren auf. Die ledrige schwarze Nase schnupperte laut.
»Florence? Florence, erkennst du mich?«, ächzte Gregoria hoffnungsvoll. »Bitte, Florence, kämpfe gegen den Dämon, der dich beherrschen will! Lass mich gehen! Wir müssen von hier fort, bevor …«
Im Rücken der Bestie krachte es mehrmals; die Kugeln durchschlugen sie, und das warme Blut der Kreatur sprühte gegen die Äbtissin. Die Bestie schrie voller Qual auf und
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