Ritus
hehren Motiven –, indem er sein ultimatives Fernglas auspackte. Die Linsen lieferten ihm gestochen scharfe Bilder vom Tatort; mit einem Knopfdruck speicherte er auf dem Memorychip, was er für wichtig hielt: die Kratzspuren im Eis, die Lage des toten Jungen.
Plötzlich bemerkte Erics gute, geschulte Nase in den gemischten Ausdünstungen der Petersburger um ihn herum einen Geruch, der so gar nicht in eine zivilisierte Stadt passte: Wolf. Und das sogar ziemlich intensiv. So intensiv, als liefe ein Exemplar unmittelbar hinter ihm vorbei und wollte ihm sagen: Fang mich doch.
Rasch senkte er das Glas und schaute sich um. Der Duft ging von einer Gestalt aus, die einen Armeeanorak in Schneetarnfarben, Stiefel, beige Thermohosen und eine dieser hässlichen Kappen mit hochgebundenen Ohrenklappen trug. Von hinten betrachtet verriet nur ihr Gang, dass es sich um eine Frau handelte. Eric atmete noch einmal tief durch die Nase ein. Sie roch nicht nach Wolf, nein, sie stank danach.
Die Frau warf einen Blick auf die blutrot gefärbte Eisfläche, machte sich Notizen und setzte ihren Weg eilends fort. Eric folgte ihr. Sie lief die Straße entlang, bog mehrmals ab und stürzte sich ins Gewühl jener Gassen, in denen nur Einheimische oder verirrte Touristen unterwegs waren.
Hier war nicht ein einziger Rubel anlässlich der Geburtstagsfeierlichkeiten der Stadt investiert worden: Blätternder Putz, zerfallende Fassaden und bröckelnder Stein bestimmten das Bild. Die Schatten schienen hier dunkler zu sein; die Sonne verlor über diesem Teil Sankt Petersburgs und ergab sich der Herrschaft des Düsteren.
Die Frau schien das nicht zu stören. Sie bemerkte auch nicht, dass er ihr nachstellte – und sich immer mehr über ihren Geruch wunderte. Eine Wolfsmarke überlagerte die andere, es ergab sich ein Konglomerat aus Wildheit, wie man es höchstens vor einem Bau wahrnehmen konnte.
Hatte er ein Rudel aufgespürt?
Eric fühlte sich von einem Moment auf den nächsten akut unterbewaffnet. Das halbautomatische Schrotgewehr lag auf dem Rücksitz des Cayenne, ihm blieben die Pistole und ein Dolch; knappe vierzig Schuss hatte er dabei.
Die Frau war vor einer großen hölzernen Eingangstür stehen geblieben und drückte zielsicher den obersten Klingelknopf. Eric ging dicht an ihr vorbei und gab vor, eine Hausnummer zu suchen. Er sah ihre anmutigen Züge, die geschwungenen schwarzen Brauen. Dunkelbraunes Haar lugte unter der Kappe hervor, und Eric merkte, wie sein Verlangen erwachte. Sie besaß diesen gewissen russischen Sexappeal, selbst in der figurvernichtenden Kleidung. Lust und Verstand rangen miteinander, wobei der Verstand dieses Mal die Oberhand behielt. Er sog noch einmal die Luft ein. Wolf, ganz eindeutig. Aber roch sie auch nach Werwolf?
Die Frau tippelte unruhig auf der Stelle und machte zwei Schritte zurück, um zum obersten Fenster zu schauen. »Herr Nadolny, kommen Sie runter!« Sie hatte den Satz auf Deutsch gerufen, ihre Stimme war dunkel und voll.
Die Antwort verblüffte sowohl sie als auch Eric.
Das Glas zerbarst, als der Körper eines Mannes durch die Scheibe flog und in hohem Bogen aus seiner Wohnung schoss. Er besaß so viel Schwung, dass er gegen die Wand des gegenüberliegenden Hauses prallte, wo sein Kopf einen hässlichen, roten Fleck hinterließ, bevor er rücklings auf das Kopfsteinpflaster fiel. Das Knacken des Genicks oder eines anderen Knochens hörte Eric so klar, als stünde er direkt daneben.
Die Frau zuckte zusammen, war einen Augenblick offensichtlich völlig fassungslos. Sie hielt sich eine Hand vor den Mund und benötigte fünf, sechs Sekunden, um einen klaren Gedanken zu fassen; dann nahm sie ihr Handy und rief einen Arzt. Er hörte die Worte »Ambulanz« und »Unfall«.
Erics Theorie vom Wandelwesen geriet ins Schwanken. Normalerweise mieden sie Krankenhäuser und alles, was mit Medizin zu tun hatte, aus Angst, dass die Untersuchungen ihre Andersartigkeit zu Tage förderten. Sie verließen sich auf die unglaubliche Regenerationskraft ihres Körpers. Etwas stimmte nicht.
Er blickte nach oben, die Hände in den Manteltaschen, und sah den Oberkörper eines maskierten Mannes, der sich nach unten beugte und eine schallgedämpfte Pistole auf die Frau anlegte. Sie war so aufgeregt, dass sie die Gefahr nicht bemerkte.
Eric musste sich innerhalb einer Sekunde entscheiden. Da er nicht wusste, welche Rolle der Frau zukam, beschloss er, ihr beizustehen. Schneller als ein Wolf zuschnappte, zog er die Makarov
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