Rivalen der Liebe
Vor allem die Anekdote, wie Jocelyn Kemble und Roxbury in einem intimen Moment von einem anderen Paar gestört wurden – von einer alten Jungfer und einem Dandy, um genau zu sein –, war Julianna noch in reger Erinnerung. Dass Jocelyn außerdem über mehrere Zeilen beschrieb, wie das Männerkostüm aussah, das sie für das Theaterstück getragen hatte, legte nur einen einzigen Schluss nahe: Der ganze Artikel war nur geschrieben, um zu zeigen, was für eine jämmerliche Lügnerin die Lady mit Klasse doch war.
Julianna ärgerte sich vor allem deshalb, weil sie Jocelyn nicht schon vorher befragt hatte. Und sie fürchtete Knightlys Reaktion, wenn er bemerkte, dass sie sich so eine günstige Gelegenheit hatte entgehen lassen.
Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Nun, wenn sie ganz ehrlich war, hatte sie überhaupt nicht nachgedacht. Nein, sie hatte nur von Roxbury geträumt. Von seinem Kuss und einigem mehr. Lauter sinnloses Zeug.
»Sagt Ja, Lady Somerset. Tanzt mit mir. Ihr wisst, dass Ihr es auch wollt«, flüsterte er.
»Ich glaube nicht, dass ich das will, vielen Dank auch.«
Julianna hatte richtig schlechte Laune – dieser Mann war einfach zu verführerisch. Das roch nach Komplikationen! Sie war eine groß gewachsene Frau, doch seine einschüchternde Größe gab ihr das Gefühl, winzig zu sein. Selbst sein Abendsmoking konnte nicht verhehlen, wie muskulös Roxbury war. Und wie sie ihn so ansah, verstand Julianna, warum die Hälfte der Frauen ihrer Kreise mit ihm geschlafen hatte und die andere Hälfte es sich zumindest wünschte.
»Ich glaube nicht, dass Ihr tanzen wollt. Ich weiß es«, antwortete er jetzt lässig.
»Meinem Ruf würde es nachhaltig schaden, wenn man mich mit Euch sähe«, erklärte sie ihm barsch. Und dann geschah das, was sie fast gefürchtet hatte … Roxbury brachte ein Argument vor, das sie nur schwer widerlegen konnte:
»So ziemlich jeder Anwesende in diesem Raum beobachtet uns gerade. Und wer in Hörweite ist, spitzt die Ohren. Ihr könnt Euch sicher nur annähernd vorstellen, was diese Leute von uns denken.«
Sie zuckte mit den Schultern, als kümmerte es sie nicht im Geringsten, was der Rest der Welt von ihr dachte. In Wahrheit aber war diese Vorstellung für sie ziemlich verstörend. Ihr Ruf als respektierte Witwe – mit nur einundzwanzig Jahren, wohlgemerkt – war entscheidend. Skandalöse Ladys wurden von den Reichen und Schönen nicht eingeladen, und als Gesellschaftskolumnistin musste sie überall sein.
Wenn man sie jedoch verstohlen mit einem wie Roxbury flüstern oder gar tanzen sah, wäre das für ihren Ruf schädlich. Es gab im Moment niemanden in London, der, gesellschaftlich gesehen, toxischer war als er.
Andererseits zerriss man sich ohnehin schon das Maul über sie – dafür genügte Julianna ein schneller Blick durch den Raum. All die Lords und Ladys wandten die Augen zwar hastig ab, doch es stand außer Zweifel, wen sie die ganze Zeit über angestarrt hatten.
»Tanzt mit mir«, flüsterte Roxbury so leise, dass er sich weit zu ihr herüberbeugen musste, damit sie seine Worte verstand. Julianna erbebte, als sein Atem ihr Ohr kitzelte, und allein das war Grund genug, es nicht zu tun. Sie konnte nicht, sie durfte einfach nichts so Intimes tun wie mit ihm zu tanzen.
In seiner Nähe wurde ihr immer ganz heiß und schwindelig. Ihr Verstand war benebelt und ihr Urteilsvermögen getrübt. Außerdem konnte sie nicht gänzlich ausschließen, dass er sie wieder küssen würde. Was ihr sehr gefallen, aber zu einer ganzen Reihe neuer Probleme führen würde.
»Das werde ich nicht, vielen Dank«, wiederholte sie, obwohl sie eigentlich sagen wollte: Das kann ich nicht riskieren.
» Dann werde ich Euch auch nicht länger helfen«, sagte Roxbury und zuckte bedauernd mit den Schultern. »Eigentlich wollte ich es ja für mich behalten, dass Ihr die Lady mit Kl…«
»Pssst!« Julianna trat ihm auf den Fuß, um ihren Standpunkt deutlich zu machen. Roxbury aber schien nicht im Geringsten verlegen oder verärgert. Tatsächlich verriet ihr sein Blick, wie sehr ihn dieser kleine Zwist mit ihr amüsierte.
»Aber ich könnte es tun«, erklärte er ihr. Ja, in seinem Blick las Julianna eindeutig ein amüsiertes und Unheil verkündendes Glitzern. Ihre Lippen verzogen sich gegen ihren Willen zu einem Lächeln. Der legendäre Roxbury-Charme entfaltete wieder einmal seine volle Wirkung.
»Das würdet Ihr nicht tun«, erklärte sie mit fester Stimme und sah ihm dabei direkt in die
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