Rivalin der Götter erbin3
er ihr angeboten, auf ihre Kinder aufzupassen. Vielleicht hätte sie ihn sogar gelassen.
»Ich bin müde«, sagte ich. »Keine Frau sollte die ganze Welt auf ihren Schultern tragen – selbst wenn sie es will. Selbst wenn sie Hilfe hat.«
Und die hatte ich nicht mehr.
»Das ist alles?«
»Das ist alles.«
Sie schwieg, und ich wandte mich wieder dem Geländer zu. Eine leichte Brise kam auf und trug den Geruch von Algen, verrottenden Ernten und menschlichem Leid aus dem Land hinter dem See zu mir herüber. Der Himmel hatte sich zugezogen, so als stünde ein Gewitter bevor, aber so sah er bereits seit Tagen aus, und es hatte noch nicht geregnet. Die Herren des Himmels trauerten um ihr verlorenes Kind; wir würden weder die Sonne noch die Sterne in nächster Zeit zu sehen bekommen.
Sollte Usein mir doch ein Messer in den Rücken rammen, wenn sie das wollte. Es war mir wirklich egal.
»Es tut mir leid«, sagte sie schließlich. »Was mit Eurem Bruder und Eurer Mutter geschehen ist. Und …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Wir konnten beide den Leichnam des Baums sehen, der in einiger Entfernung die Berge verdeckte. Einst hatten sie den Horizont gebildet. Von diesem Ort betrachtet sah Elysium aus, als hätte jemand weiße Juwelen über eine zerbrochene, braune Krone geschüttet.
»Ich wurde geboren, um die Welt zu verändern«, füsterte ich.
»Bitte?«
»Die Matriarchin – die erste Shahar – soll das gesagt haben.« Ich lächelte in mich hinein. »Außerhalb der Familie ist dieses Zitat kaum bekannt, weil es ketzerisch ist. Bright Itempas hasst Veränderungen, müsst Ihr wissen.«
»Aha.« Ich nahm an, dass sie mich für verrückt hielt. Auch das störte mich nicht.
Nach einer Weile ging Usein, kehrte wahrscheinlich zum Tempel zurück, um ihren gerechten Anteil an der Zukunft für Darr einzufordern. Das hätte ich auch tun sollen. Die Arameri waren unter anderem die königliche Familie der zahlreichen und zersplitterten Stämme des Volkes von Amn. Wenn ich nicht für mein Volk eintrat, würde man uns vielleicht übervorteilen.
Und wenn schon, dachte ich, dann rafte ich meine Robe hoch und setzte mich an die Mauer.
Lady Yeine fand mich als Nächste.
Sie tauchte lautlos auf und saß auf dem Geländer, an das ich mich kurz zuvor noch gelehnt hatte. Sie sah aus wie immer – gnadenlos Darre –, nur ihre Kleidung hatte sich verändert. Ihre Tunika und die halblange Hose, die sie meistens trug, waren sonst hellgrau, nicht so dunkel wie an diesem Tag. Zwar wirkten sie immer noch grau, aber es war das Grau der Unwetterwolken über uns. Sie lächelte nicht; Leid verlieh ihren Augen eine dunkelgrüne Färbung.
»Was macht Ihr hier?«, fragte sie.
Wenn mir noch eine weitere Person, ob Sterblicher oder Gottheit, diese Frage stellte, würde ich schreien.
»Was macht Ihr hier?«, fragte ich zurück. Das war impertinent, das wusste ich, denn meine Familie schuldete ihr Gehorsam. Ich hätte es nie gewagt, Lord Itempas eine solche Frage zu stellen. Yeine schüchterte mich jedoch weniger ein. Mit den Konsequenzen dieses Umstandes musste sie leben.
»Ich führe ein Experiment durch«, sagte sie. Insgeheim war ich erleichtert, dass meine Unhöfichkeit sie nicht zu stören schien.
»Ich lasse Nahadoth und Itempas eine Weile allein. Wenn das Universum wieder aus den Fugen gerät, weiß ich, dass das ein Fehler war.«
Wenn mein Bruder nicht gestorben wäre, hätte ich gelacht. Wenn ihr Sohn nicht tot gewesen wäre, hätte sie wohl das Gleiche getan.
»Werdet Ihr ihn freilassen?«, fragte ich. »Itempas?«
»Das ist bereits geschehen.« Sie seufzte, zog ein Bein an und stützte ihren Kopf auf das Knie. »Die Drei sind wieder zusammen, auch wenn wir nicht ganz vereint sind und unsere Aussöhnung uns nicht gerade in einen Freudentaumel versetzt. Vielleicht gibt es keine Aussöhnung. Vielleicht muss dafür erst ein ganzes
Zeitalter der Welt vergehen. Aber wer weiß? Wir sind schon weiter gekommen, als ich erwartet hätte.« Sie hob die Schultern. »Vielleicht liege ich mit dem Rest auch falsch.«
Ich dachte an die Historie, die ich gelesen hatte. »Sollte er nicht so lange bestraft werden wie die Enefadeh? Zweitausend Jahre und mehr?«
»Oder bis er gelernt hat, wahrhaftig zu lieben.« Mehr sagte sie nicht. Ich hatte gesehen, wie Itempas beim Anblick seines toten Sohns schluchzte, wie seine Tränen ihm Blut und Schmutz aus dem Gesicht wuschen. Der Anblick war nicht für die Augen Sterblicher gedacht
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