Rivalin der Götter erbin3
brauchen.«
»Ich sorge dafür, dass ein doppeltes Tablett heraufgebracht wird. Wirst du schlafen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Mir liegt zu viel auf der Seele, selbst wenn ich erschöpft wäre, und das bin ich nicht.« Noch nicht.
Sie seufzte. »Verstehe.«
Viel zu spät erkannte ich, dass sie erschöpft war. Ihre Gesichtszüge waren schärfer, und sie war blasser als sonst. Mein Zeitgefühl kehrte zurück – trüb, lahm, aber doch funktionierend –, also begrifich, dass es weit nach Mitternacht gewesen war, als sie mich herbeirief. Mich verfuchte. War sie auch auf und ab gelaufen, während ihr Geist voller Sorgen war? Was hatte dafür gesorgt, dass sie sich an mich erinnerte – egal, wie hasserfüllt – nach all dieser Zeit? Wollte ich das überhaupt wissen?
»Hat unser Eid noch Bestand, Shahar?«, fragte ich leise. »Ich wollte dir kein Leid zufügen.«
Sie runzelte die Stirn. »Willst du denn, dass er weiter besteht? Mir ist so, als ob du bei dem Gedanken an sterbliche Freunde alles andere als erfreut warst.«
Ich leckte mir über die Lippen und fragte mich, warum ich mich so unbehaglich fühlte. Nervös. Sie machte mich nervös. »Ich glaube, vielleicht … könnte ich unter den gegebenen Umständen Freunde brauchen.«
Sie blinzelte und lächelte dann mit einer Hälfte ihres Mundes. Im Gegensatz zu ihrem vorherigen Lächeln war dieses hier ernst gemeint und ohne Bitterkeit. Es zeigte mir, wie einsam sie ohne ihren Bruder war – und wie jung. Im Grunde genommen war sie doch nicht so weit von dem Kind entfernt, das sie gewesen war.
Dann machte sie einen Schritt nach vorne, legte ihre Hände
auf meine Brust und küsste mich. Es war ein füchtiger, freundlicher Kuss. Ihre warmen Lippen pressten sich nur kurz auf meine. Doch er durchfutete mich wie der Klang einer Kristallglocke. Sie trat zurück, und ich starrte sie an. Ich konnte nichts dagegen tun.
»Freunde also«, sagte sie. »Gute Nacht.«
Ich nickte stumm und betrat Dekas Zimmer. Sie schloss die Tür hinter mir. Ich ließ mich rückwärts dagegen fallen, fühlte mich einsam und sehr, sehr merkwürdig.
4
Schlaf, kleiner Kleiner,
Hier ist eine Welt
Mit Hass auf jedem Kontinent
Und Trauer in ihrem Schoß.
Wünsch dir ein bess’res Leben
Weit, weit fort von hier.
Hör nicht zu, wenn ich davon rede,
Geh einfach hin.
I n dieser Nacht schlief ich nicht, obwohl ich es hätte tun können. Der Drang danach war da wie ein unangenehmes Jucken. Ich stellte mir das Verlangen nach Schlaf vor wie einen Parasiten, der sich an meiner Stärke nährte und nur darauf wartete, dass mein Körper geschwächt genug war, um ihn übernehmen zu können. Früher hatte ich Schlaf gemocht, bevor er zur Bedrohung wurde.
Doch Langeweile mochte ich genauso wenig, und davon gab es reichlich in den Stunden, nachdem ich Shahar verlassen hatte. Ich konnte mir nicht ständig über meinen besorgniserregenden Zustand Gedanken machen. Es gab nur eine Möglichkeit, meine Frustration zu entladen: Ich musste etwas tun, egal was. Also stand ich aus meinem Stuhl auf und ging durch Dekas Zimmer. Dabei spähte ich in die Schubladen und unter das Bett. Seine Bücher waren zu primitiv, um mich zu interessieren. Doch es gab eins mit Rätseln. Einige davon waren mir neu. Allerdings hatte
ich es innerhalb einer halben Stunde durch und gleich darauf wieder Langeweile.
Es gibt nichts Gefährlicheres als ein gelangweiltes Kind. Obwohl ich inzwischen ein gelangweilter Jugendlicher war, behielt das alte Sprichwort der Sterblichen seine Gültigkeit. Als die frühen Morgenstunden sich immer weiter dehnten, stand ich auf und öfnete eine Wand. Wenigstens das konnte ich, ohne meine verbliebene Stärke zu verausgaben. Es kostete mich nur ein Wort. Nachdem der Tagstein zur Seite gerollt war, um den Weg für mich freizugeben, ging ich durch die entstandene Öfnung.
Mein altes Territorium zu durchstreifen hob meine Laune. Ich pfif beim Laufen vor mich hin. Vieles war nicht mehr so wie früher. Der Weltenbaum war um Elysium herum- und durch es hindurchgewachsen. Er hatte einige der alten Flure und ungenutzten Räume mit Geäst gefüllt, was mich häufig zu Umwegen zwang. Dies, so viel wusste ich, war Yeines Absicht gewesen. Denn ohne die Enefadeh und – was noch wichtiger war – ohne die ständige Präsenz des kraftspendenden Steins der Erde benötigte Elysium den Baum als Stütze. Seine Architektur brach zu viele Gesetze, die Itempas für das Reich der Sterblichen
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