Rivalin der Götter erbin3
hielt ich den Atem an, weil ich endlich verstand. Ich war schon Hunderte Male aufgewachsen. Ich kannte das Muster, dem mein Körper normalerweise folgte. Ich hätte schwerer, größer und vollständiger sein müssen, mit einer tieferen Stimme. Achtzehn Jahre alt und nicht sechzehn. »Shahar und Dekarta«, hauchte ich. »Mein Alterungsprozess hat sich verlangsamt und an ihren angepasst.«
Shevir nickte und war mit meiner Reaktion ofensichtlich zufrieden. »Ihr erscheint ziemlich dünn. Also hat Euch vielleicht Nahrung gefehlt, in der Zeit, in der Ihr … fort wart, und das hat Euer Wachstum gebremst. Wahrscheinlicher ist allerdings …« Ich nickte abwesend und schnell, weil er recht hatte. Wie konnte ein so wichtiges Detail mir entgehen?
Weil es etwas ist, das nur ein Sterblicher bemerkt.
Ich hatte den Verdacht gehabt, dass meine Verfassung irgendwie mit dem Freundschaftseid zusammenhing, den ich mit Shahar und Dekarta geschworen hatte. Jetzt wusste ich es: Ihre Sterblichkeit hatte mich wie eine Krankheit angesteckt. Doch welche
Art Krankheit verlangsamte ihren Fortschritt, um sich anderen Opfern anzupassen? An dieser Veränderung war etwas Zielgerichtetes. Etwas Absichtliches.
Doch wessen Absicht und zu welchem Zweck?
»Gehen wir in Euer Labor, Schreiber Shevir«, sagte ich. Ich sprach leise, weil meine Gedanken mit Schlussfolgerungen und Verwicklungen durcheinanderwirbelten. »Ich glaube, ich kann Euch Eure Proben sofort geben.«
Als ich Shevirs Labor kurz nach Sonnenaufgang verließ, bekam ich Hunger. Noch war er nicht schlimm – weit von dem groben, heiklen Schmerz entfernt, den ich einige Male während meiner Sklavenjahre, wenn meine Meister mich fast verhungern ließen, kennengelernt hatte –, doch ich wurde dadurch ungehalten, denn er war ein weiterer Beweis meiner aufkommenden Sterblichkeit. Würde ich verhungern, wenn ich ihn jetzt ignorierte? Konnte ich mich immer noch mit Spielen und Ungehorsam aufrecht halten, wie ich es sonst immer getan hatte? Ich war versucht, es herauszufinden. Andererseits – so dachte ich, während ich meinen Oberarm rieb, auf dem ein Verband und ein Heilskript das kleine Loch verdeckten, an dem Shevir mir etwas Fleisch entnommen hatte – gab es keinen Grund für mich, unnötig zu leiden. Als Sterblicher würde ich noch genug Schmerz in meinem Leben erfahren, ob ich nun danach suchte oder nicht.
Lärm und Aufruhr lenkten mich von meiner düsteren Stimmung ab. Ich machte schnell einen Schritt zur Seite, als sechs Wachleute an mir vorbeirannten. Ihre Hände hatten sie an die Wafen gelegt. Einer von ihnen trug eine Botschaftensphäre. Daraus ertönten leise schnelle Befehle. Ich nahm an, dass der Sprecher ihr Hauptmann war. Irgendetwas mit »räumt den nordwestlichen Korridor« und »Vorhof« und am deutlichsten: »Sagt Morads Leuten, sie sollen etwas gegen den Gestank mitbringen.«
Derartigen Versuchungen konnte ich noch weniger widerstehen
als Shahars Verlockungen. Also summte ich ein kleines Liedchen, steckte meine Hände in die Taschen und hopste einen anderen Korridor entlang. Als die Wachen außer Sichtweite waren, öfnete ich eine Wand und rannte los.
Beinahe hätte der Baum meine Pläne durchkreuzt, der durch die besten Verbindungspunkte im ungenutzten Raum gewuchert war. Aufgrund meines blöden, schlaksigen Körpers konnte ich mich nicht länger durch die engen Durchgänge quetschen, was mich wütend machte. Obwohl ich genug Ausweichrouten kannte, kam ich zu spät im Palasthof an und war außer Atem. Auch das ärgerte mich. Ich musste meinen sterblichen Körper stärker machen, oder er würde bald völlig nutzlos sein.
Das, was ich sah, machte jedoch alles wieder wett.
Der Vorhof von Elysium war von meiner verstorbenen Schwester Kurue entworfen worden. Sie hatte die beiden Schlüsselelemente der sterblichen Psyche verstanden: Sie hassten es, an ihre eigene Unzulänglichkeit erinnert zu werden, und dennoch erwarteten sie gleichzeitig und instinktiv, dass ihre Anführer überwältigend dominant sind. Deshalb wurden Besucher an vier entscheidenden Stellen mit Pracht konfrontiert, wenn sie am Lotrechten Tor eintrafen. Im Norden befand sich Elysiums gewölbter, gähnender Eingang, der höher war als viele der Gebäude in der Stadt darunter. Im Osten und Westen lagen die Zwillingsfügel des Gartens der Hunderttausend; ein Mosaik aus angeordneten Blumenbeeten, die alle von einem exotischen Baum gekrönt wurden. Dahinter konnte man einen Ast des
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