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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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totenbleich und unfähig zu sprechen, mit den Zähnen knirschend wie eine ganze Geröllhalde, stakte er auf stocksteifen Beinen an ihr vorbei, als gäbe es sie überhaupt nicht.
    Wie es ihm gelang, die Tür zu öffnen, hindurchzuschlüpfen und sie dann vor ihr wieder zu verschließen, würde sie nie begreifen, doch war es eine der heldenhaftesten Taten, die sie jemals sah, ein so monumentaler Willensakt, daß sie bis in die Gegenwart Ehrfurcht davor empfand, auch wenn die Erinnerung daran die Galle in ihr aufsteigen ließ. Die Tür knallte zu. Sie fand ihre Stimme wieder. »Vater!« schrie sie und schlug auf die Tür ein. »Daddy, Daddy!«
    »Geh weg«, knurrte er, »verdammt, geh weg!« Und dann hörte sie ihn auf dem Teppich niedergehen, strampelnd wie ein Hund mit einer Kugel in der Schulter, die Lampe krachte um, es war ein Heidenlärm, und die Dienstboten standen mit erschrockener Miene im Korridor, Mrs. Muldoon und Nora und Olga, aber es gab keinerlei Hoffnung, denn er lag im Sterben, starb hinter dieser verschlossenen Tür, um ihr den Anblick zu ersparen, seiner Tochter, seiner Katherine.
    Sie beerdigten ihn, und einen Monat danach erfuhr sie von ihrer Mutter, daß sie Chicago so bald wie möglich verlassen würden. Und wo würden sie hinziehen? Nach Boston, um in der Nähe von Samuel zu sein, der jetzt die ganze Hoffnung der Familie war. Und das war Samuel auch, eine große Hoffnung, ein großer Mann ab ovo , eine Miniaturausgabe des Vaters, er arbeitete hart, war rechtschaffen, ernsthaft, anziehend und mit einundzwanzig älter und klüger als die meisten Männer es mit dreißig oder gar vierzig waren, und einer Laufbahn im Interesse des Gemeinwohls ebenso gewiß wie jeder Dexter vor ihm. Katherine dagegen verging vor Kummer. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Sie war vierzehn Jahre alt. Mit ihrer Mutter zog sie nach Boston – eine provinzielle Stadt, pingelig und eng, erdrosselt im Würgegriff ihrer feinen Gesellschaft – und klammerte sich an ihren gutaussehenden, kultivierten älteren Bruder als Pfeiler in der Brandung, während die Flut anstieg und das Wasser immer höher schwoll. Und das war auch gut so, es war das Beste, was sie tun konnte, bis Samuel eines Nachmittags vier Jahre später plötzlich zu fiebern begann, einen tiefroten Ausschlag bekam, daß er aussah, als hätte man ihn am ganzen Leib mit Hämmern verprügelt, und noch vor dem nächsten Morgengrauen starb.
    »Katherine? Bist du noch bei uns?«
    Sie sah von ihrer Teetasse auf, und da war alles in seiner Solidität und Dauerhaftigkeit, der Geruch nach nassem Haar, nassem Frauenhaar, und nach Kuchen und Rauch und Rinderbrühe, und schon kehrte sie in die Gegenwart zurück und schenkte Jane Roessing ein triumphierendes Grinsen. »Nur etwas müde«, sagte sie. »Oder eigentlich nicht müde – eher so, wie man sich nach einem langen Waldspaziergang fühlt. Entspannt. Ruhig. Und trotzdem aufgedreht.«
    »So à la Wordsworth?«
    Katherine lachte. »Sicher doch, ›in Gelassenheit gesammelte Gemütsbewegung‹ und so weiter. Aber im Moment fühle ich mich eher wie Lucy Stone oder Alice Paul.« Sie rutschte ein Stück zur Seite und klopfte neben sich auf das Sofa.
    Jane raffte ihre Röcke und nahm geschickt an der dargebotenen Stelle Platz. Sie kam aus Philadelphia, war etwa in Katherines Alter und hatte einen beträchtlich älteren Mann geheiratet, einen Fabrikanten, der ein großer Verfechter der Frauenrechte gewesen war – und als er vor acht Jahren starb, hatte er ihr alles hinterlassen. Seitdem steckte sie alle ihre Mittel und Energien in die Bewegung, reiste durch das Land und half beim Aufbau von örtlichen Sektionen, und im Frühling war sie zusammen mit Inez Milholland in Washington beim großen Protestmarsch gewesen. Sie hatte Dutzende von gemeinsamen Freundinnen, aber Katherine hatte sie aus diesem oder jenem Grund erst am vergangenen Abend bei Mrs. Littlejohns Empfang kennengelernt. Jane war ihr sofort sympathisch gewesen. Sie war ein Dynamo, eine dieser vor Energie sprudelnden Frauen, die immer viel größer wirken, als sie in Wirklichkeit sind, immer lebhaft, immer lustig, so schlängelte sie sich durch Mrs. Littlejohns Salon mit ihrem mächtigen rostfarbenen Haarschopf, dessen Wildheit von Hut, Kamm oder Haarnadel nie ganz gezähmt werden konnte. Ihre Augen waren von einem ganz leichten, hellen und zarten Grün, wie eine Vase aus der Sung-Dynastie, und sie schaffte es immer, beherrscht und schlau auszusehen – nicht unbedingt

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