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Riven Rock

Riven Rock

Titel: Riven Rock Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Gespräch rings um sie war wie Ebbe und Flut, und sie dachte: Genau so sollte sie sein, die Welt.
    Aber so war sie nicht, und niemand wußte das besser als sie.
    Es gab keine Freistätten, keine verwunschenen Schlösser, keine Inseln des Friedens voller schöner Dinge und triumphierender Frauen, außer man baute sie sich selbst. Aber man baute sie nicht selbst, das ging nicht, nicht mit vierzehn, wenn man ebenso abhängig vom Vater war wie der von seinem launenhaften Gott in dessen launenhaftem Himmel. Denn so alt war sie damals gewesen – vierzehn –, als die Welt der Männer über ihr zusammenbrach, samt Pfosten, Strebepfeilern und Gerüst.
    Es war im Frühjahr gewesen, etwa einen Monat nach dem Fiasko mit dem Schachclub, die Kutsche hatte sie gerade von der Schule nach Hause gebracht (es gab ja keinen Grund mehr, länger dort zu bleiben, und Mr. Gregson schien ihr auch nicht mehr in die Augen sehen zu können, gleichgültig, was sie tat, um ihm zu gefallen, so als wäre sie es, die im Unrecht war). Ihre Mutter war ausgegangen – zu einem Teekränzchen oder vielleicht zu einer Wohltätigkeitsveranstaltung –, und ihr Bruder Samuel studierte in Harvard. Im Haus war es unnatürlich still, das Personal war in der Küche, die Katzen schliefen auf der Fensterbank. Sie las – Middlemarch , sie erinnerte sich noch genau an das Buch –, sann über Dorothea Brooke und ihren Wissensdurst nach, der so allumfassend war, daß sie sich deshalb für so eine griesgrämige geschlechtslose alte Mumie wie diesen Casaubon wegwarf, da ertönte aus der vorderen Halle ein lautes Krachen, so als hätte jemand die Tür aufgestoßen und einen Mehlsack auf den Läufer geknallt. Die Katzen hoben den Kopf. Katherine legte das Buch weg. Und da hörte sie es nochmals, lauter jetzt, deutlicher, als würde ein zweiter Sack gegen die Wand geschleudert und prallte dann von dem ersten ab. Neugierig – sie konnte sich nur vorstellen, daß ihre Mutter etwas von ein paar Ladenjungen hereintragen ließ, das zu sperrig für die Hintertreppe war – schlüpfte sie in die Hausschuhe und ging an die Tür, um nachzusehen.
    Es war nicht ihre Mutter. Da waren keine Ladenjungen, keine Mehlsäcke, keine in Packpapier eingeschlagenen Porzellanvitrinen oder Ottomanen. Als sie die Tür zur Eingangshalle öffnete, sah sie dort ihren Vater stehen, an eine Wand gelehnt und das Gesicht zu einer Grimasse von fast schon manischer Konzentration verzerrt, als wollte er sich durch die Holztäfelung hindurchbeißen; hinter ihm stand die Tür nach draußen offen und bot einen Blick auf den milden Schein der Sonne und die Äste der knospenden Bäume an der Straße. »Vater?« fragte sie, eher verwirrt als beunruhigt – noch nie hatte sie erlebt, daß er vor sechs aus der Kanzlei nach Hause kam. »Hast du irgend etwas?«
    Daraufhin drehte er das Gesicht von der Wand weg und richtete den Blick auf sie, und da geschah etwas Merkwürdiges: auf einmal hörte sie nichts mehr, weder den Verkehrslärm von der Straße noch das Geschrei der spielenden Kinder vor dem Nachbarhaus – es war, als wäre sie plötzlich taub. Dann aber bohrte sich ein einzelnes Geräusch in ihr Bewußtsein: sein rauhes, schabendes Zähneknirschen, Schmelz auf Schmelz, das ihr so laut vorkam wie mahlende Mühlsteine. Sie ging auf ihn zu, keine Zeit nachzudenken, sich zu wundern oder gar Angst zu haben, die Arme weit ausgebreitet, um ihn zu umfangen, zu umarmen und zu beschützen, doch mit einemmal schlug die Wand aus und schleuderte ihn in die Mitte des Korridors auf Beinen, die ihn kaum noch trugen, und er torkelte in einem blinden Taumel an ihr vorüber, die nutzlosen Hände nach der Türklinke zur Bibliothek ausgestreckt.
    Das war ihr Vater, Wirt Dexter, eine der großen Leuchten der Jurisprudenz seiner Zeit, Sohn des Gründers von Dexter, Michigan, Enkel des Finanzministers von Präsident John Adams, neunundfünfzig Jahre alt und nie im Leben einen Tag krank gewesen, ihr Daddy, Papa, Pater, der Mann, an dem Katherine ihr Dasein so fest verankert hatte, wie eine Entenmuschel an einem Stützpfahl tief unter der Meeresoberfläche haftet. Er war der furchtlose, unbeirrbare Verteidiger in unpopulären Fällen, der breitschultrige Mann mit dem freundlichen Lächeln, der ihr geschickt mit wenigen Zauberschnitten das Fleisch zerteilte, als sie noch zu klein war, um große Stücke zu kauen, und der sich mit einem Märchenbuch auf ihre Bettkante setzte, wenn sie nicht einschlafen konnte. Jetzt aber,

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