Riven Rock
endlich fallenließ. Tatsächlich gab er von da an überhaupt jeden Versuch auf, sich in Mr. McCormicks Angelegenheiten einzumischen, weder mit Änderungen seines Zeitplans noch durch therapeutische Gespräche, und während des einen Jahres, ehe er zum Militärdienst berufen wurde, um die am Schützengrabenkoller leidenden Veteranen der Westfront zu behandeln, schien er es vollends zufrieden, einfach nur – dahinzugleiten.
O’Kane für sein Teil war damit einverstanden, er hatte seine eigenen Probleme. Als der Herbst von 1916 in den Winter von 1917 ausblutete und der Krieg immer näher rückte, schienen sich seine Scharmützel mit Rosaleen und Giovannella zu verschärfen, bis er unter schwachen Rückzugsgefechten das Feld räumen mußte. Mit Rosaleen wurde der Kampf wenigstens per Post und über eine Distanz von rund fünftausend Kilometern ausgefochten. Er hatte seit zwei Jahren nichts von ihr gehört, und dann verlangte sie plötzlich Geld von ihm:die Briefe prasselten nur so auf ihn nieder in einem Wirbelsturm von Forderungen, Klagen und Drohungen. Und was wollte sie? Sie wollte Schuhe für Eddie jr., der angeblich das »genaue ebenbilt von sein Fater« und bald neun Jahre alt war, außerdem einen neuen Sonntagsanzug für den Kleinen, damit er recht hübsch aussähe bei ihrer Hochzeit mit Homer Quammen, und ob er sich wohl noch an Homer erinnerte? Übrigens habe sie die Scheidung eingereicht, und sie fand, er schulde ihr dafür was und solle auch keine Sekunde lang glauben, daß ihre zweite Ehe ihn etwa von seiner Verpflichtung befreie, für Eddie jr. zu sorgen, vor allem da Homer »arm wiene Kürchenmauss« sei.
Er schickte ihr das Geld, vierzig Dollar alles in allem, obwohl es ihn wurmte, weil er jeden Cent für ein Grundstücksgeschäft sparte, an dem ihn Dolores Isringhausens Schwager beteiligen wollte, und er bekam dafür nie ein Dankeschön, ein auf Wiedersehen oder sonst etwas. Es folgten aber keine weiteren Briefe, also nahm er an, sie habe das Geld gekriegt, und bis er wieder von ihr hörte, hatte er die Sache längst vergessen. Das war im Dezember, um Weihnachten herum – er erinnerte sich daran, weil Katherine in der Stadt war, sie lud im oberen Salon Berge von Geschenken und Kränzen, Popcorngirlanden und so weiter ab und brachte Brush und Stribling, den Grundstücksverwalter, ordentlich auf Trab –, und O’Kane kam gerade von seiner Schicht nach Hause, wo er Mrs. Fitzmaurice ein Sandwich abschwatzen und danach auf einen Drink in Menhoffs Kneipe gehen wollte, als er den verschmierten Briefumschlag auf dem Tisch im Flur liegen sah. Er erkannte Rosaleens verkrampfte untermenschliche Krakelschrift – Wohlgeb. Edw. O’Kane c/o Mrs. Morris Fitzmaurice, 196 State Street, Santa Barbara, Kalifornien – und schob sich den Brief in die Brusttasche.
Später, als er bei Menhoff an einem Tisch saß und seine Jacke nach einem Streichholz durchstöberte, um dem Mädchen aus dem Billigkaufhaus Feuer zu geben, entdeckte er ihn wieder. Er zündete ihr die Zigarette an – sie hieß Daisy, und ihre Brüste ließen ihn fast wahnsinnig werden, so daß er aus lauter Liebe zu ihnen am liebsten gestorben wäre –, dann entschuldigte er sich und ging auf die Toilette, wo er vor dem Pissoir stehend den Brief aufriß und damit gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlug. In dem Kuvert steckte eine Photographie, sonst nichts, keine Zeile. Er hielt sie mit der freien Hand ins Licht. Das Bild war verschwommen und ziemlich unscharf, so als hätte sich die Welt in dem Moment zwischen dem Drücken des Auslösers und dem Fixieren der Aufnahme ein Stück verschoben, und es zeigte einen schlaksigen Jungen in kurzen Hosen, neuen Schuhen, Jackett und Schlips, tapfer lächelnd vor einem Hintergrund kahler Bäume und einer ebenfalls entlaubten Hecke. O’Kane sah genauer hin. Kniff die Augen zusammen. Wendete die glatte Oberfläche, um das Licht einzufangen. Und sah das Gesicht seines Sohnes, das ihm aus dem verwackelten Photo entgegenstrahlte, Eddie jr., sein eigen Fleisch und Blut, und dieses Gesicht würde er überall wiedererkennen.
Sicher. Sicher würde er das.
Dort am Pissoir verlor er jedes Zeitgefühl, starrte nur in das strahlende Gesicht auf diesem Bild und fühlte sich dabei so schlecht, wie er sich noch nie gefühlt hatte, schlecht und schäbig, wertloser als jeder Vagabund vor einer Mülltonne. Seine Eltern kannten den eigenen Enkelsohn nicht einmal, seine Schwestern nicht ihren Neffen. Niemand kannte ihn, niemand
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