Rixende ... : Historischer Roman (German Edition)
sich der Lichtschein der Fackeln auf dem Wasser, als sie schweigend am teils sandigen, teils steinigen Ufer des Sees entlang liefen. Ein kühler Hauch strömte über ihre Gesichter. Simon, der immer wieder einen verstohlenen Blick auf seine Schwester warf, machte Rixende auf versteinerte Fußspuren im Felsboden aufmerksam, die Menschen, die lange vor ihrer Zeit hier waren, hinterlassen hatten.
Plötzlich stießen sie auf einen kleineren Wasserfall, der aber ebenfalls in Kaskaden in den See stürzte. Rixende schöpfte sich Wasser mit der hohlen Hand und trank gierig
„Folge mir, es ist die sprudelnde Quelle des Paradiesstromes“, sagte Simon feierlich, als sie ihren Durst gelöscht hatte. „Die Quelle unseres Glaubens.“
Er zog seine zerschlissenen Sandalen aus, klemmte die Fackeln zwischen Steine und entzündete eines der Talglichter. Schützend hielt er die Hand über die kleine Lampe und schritt mit ihr ungerührt mitten in den Wasserfall hinein. Rixende fasste sich ein Herz, holte tief Luft und lief ihm hinterher. Im Nu war sie klitschnass. Hinter dem Wasservorhang befand sich eine kleine Plattform, die in einen schmalen Stollen mündete, der allerdings nur kriechend überwunden werden konnte. Da Simon mit dem Licht voraus kroch, war es fast stockfinster um sie herum. Der Boden war glitschig, bestand aber zum Teil auch aus scharfkantigem Fels, so dass trotz der Beinlinge bald Rixendes Knie aufrissen und ihre Hände zu bluten begannen. Zum ersten Mal wurde sie ein wenig ärgerlich auf ihren Bruder. Ihre Kleidung war schmutzig, sie selbst nass, eiskalt, müde, blutete gar! Wo führte er sie nur hin?
Endlich hatte der Gang ein Ende. Simon richtete sich auf. Auch Rixende erhob sich mühsam. Doch dann riss sie die Augen auf vor Überraschung: Sie befanden sich in einer kleinen, fast kreisrunden Grotte, in der von oben durch einen engen Schacht erstes Tageslicht einfiel, und vor ihnen, auf einem steinernen Altar, stand in einem goldenen Ring eine große, ebenfalls goldglänzende Kapsel.
„Die Geheimen Worte“, flüsterte sie ergriffen.
Simon stellte die Lampe nieder. Rixende wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Sie wusste überhaupt nichts mehr. Doch sie schob all die verwirrenden Gedanken und Fragen beiseite und versuchte, sich ganz dem geheimnisvollen Licht, das der goldene Behälter ausstrahlte, hinzugeben. Ein feiner Nebel schien die Kapsel zu umhüllen, er wallte auf und ab, obwohl kein Luftzug in der Grotte zu spüren war.
Nicht ohne Stolz erzählte ihr der Bruder, dass er, als derzeitiger Hüter der Geheimen Worte, direkt dem katharischen Bischof unterstellt sei und als filii mayor weit über einem gewöhnlichen parfait stehe. „Ein Vollkommener ist in erster Linie Meister seines Schicksals, aber er sollte auch Arzt sein, der sowohl die Krankheiten des Körpers als auch die der Seele heilt. Bei Gefechten erscheinen die Vollkommenen daher nur, um Blutvergießen zu verhüten und um die Verwundeten zu pflegen. Den Sterbenden erteilen sie als höchsten Trost das Consolamentum , denn der Tod ist der Kuss Gottes. Wie die alten Magier kennen sie sowohl den Weg der Sterne und ihre Bedeutung als auch die Heilpflanzen auf dieser Erde. Doch nur der jeweilige Hüter und der Bischof wissen um das Versteck der Geheimen Worte, die den Menschen den Weg, die Wahrheit und das ewige Leben weisen.“
„Die Worte, die sich in dieser Hülse befinden, versprechen das ewige Leben?!“
Rixende zitterte vor Kälte und vor Aufregung und konnte ihren Blick nicht vom Altar losreißen. Wenn Fulco diese Kapsel nur einmal sehen könnte, dachte sie aufgewühlt, wenn er die Kraft der Worte spüren würde, die durch das Gold hindurch beinahe fühlbar war, niemals mehr würde er einen Katharer verfolgen!
„Schlag dir den Mann, der dir das Weiße Einhorn geschenkt hat, aus dem Kopf, liebe Schwester, so lange du hier bei uns bist“, flüsterte da Simon und nahm Rixende zärtlich in den Arm. „Versuche vielmehr, deine Gedanken vollkommen rein zu halten.“
„Woher weißt du, dass ich gerade an ihn dachte?“
„Du befindest dich an einem Ort der schöpferischen Essenz, einer Weihungsstätte für unsere Priester. Wenn man im Geist und in der Wahrheit rein geworden ist und lange gebetet hat, erwirbt man an solchen Orten die Fähigkeit, Gedanken, die sich im Kopf anderer Menschen befinden, zu sehen. Aber es ist mir erst heute klargeworden, dass es dir vorherbestimmt war, diesen Inquisitor kennenzulernen. Er ist ein
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