Rixende ... : Historischer Roman (German Edition)
höre ...“
Simon suchte eine bestimmte Stelle, um sie Rixende vorzulesen:
„ Jesus sprach: Ich werde euch geben, was kein Auge gesehen und was kein Ohr gehört und was keine Hand berührt hat und was noch nie aus dem menschlichen Geist hervorgegangen ist. “
„Aber ... aber was habe ich damit zu tun?“ fragte Rixende verzweifelt. Sie hatte plötzlich Angst. Angst vor der Grotte, der Goldkapsel, den Pergamenten mit ihrer fremden Schrift, ja sie fürchtete sich vor dem eigenen Bruder, der ihr nun wie ein völlig Fremder tief in die Augen sah und flüsterte:
„ Jesus sprach: Ich werde euch auswählen, einen unter tausend und zwei unter zehntausend, und sie werden dastehen, als wären sie ein einziger. “
„Du meinst, er hat mich ...?“ Rixende war entsetzt.
Sorgfältig steckte Simon die Pergamente wieder in die Kapsel. Dann drückte er diese Rixende in die Hand.
„Leg deine Hände darum, Ava von Planissoles, liebe Schwester, und schließ die Augen.“
Die junge Frau zögerte. Doch Simon nickte ihr aufmunternd zu.
Sie tat, wie ihr geheißen. Die goldene Hülse fühlte sich kühl an. Dennoch löste sie ihre Starre und festigte zugleich ihr Herz. Nach einer Weile war Rixende, als ob die Geheimen Worte mit ihrer wundervollen Kraft ihr erlaubten, über das soeben Gehörte Klarheit zu bekommen. Bilder streiften ihr durch den Kopf. Sie sah sich selbst, sah Fulco, Paco, Benete, Mengarde und alle anderen, die ihr nahestanden.
Sie sah Simon und die Katharer ...
Sie sah in die Zukunft.
Lange Zeit stand sie regungslos vor dem Altar. Als sie die Kapsel zurückstellte, war sie ruhig und erregt zugleich. Sie wusste, dass sie ihr Leben weiterführen durfte wie bisher. Niemand, auch nicht die Geheimen Worte, verlangte von ihr den Verzicht.
Sie allein hatte die Freiheit, über ihr Leben zu bestimmen.
Aber sie hatte auch etwas gesehen, das sie zutiefst erschütterte.
34
Soll denn am Ziel sich sehn mein Sehnen heiß
im Engelstempel hier, dem wunderreichen ...
Dante, Die Göttliche Komödie
Am Tag darauf machte sich Rixende in Begleitung zweier junger Katharer auf den Rückweg nach Tarusco. In der Herberge angekommen, musste sie erfahren, dass Mustafa ernsthaft erkrankt war. Er hustete sich beinahe die Seele aus dem Leib und war so heiß wie ein Brot im Backofen. Von Fieberträumen und Erstickungsanfällen umgetrieben, lag er schweißüberströmt und dennoch erbärmlich frierend auf seinem Lager. Ali und Hasrabal benetzten unermüdlich seine Lippen, abwechselnd mit Wasser und harzigem Wein. Der Bader, den man hinzugezogen habe, so Ali aufgeregt zu Rixende, habe den Kranken gezwungen aus einem Eimer zu trinken, aus dem zuvor ein Pferd getrunken hatte. So seien von altersher die Fieberkranken zu heilen. Über diesen schlechten Rat waren die Muselmanen mit dem Bader und dem Wirt, der ihn ins Haus geholt hatte, derart in Streit geraten, dass in der Herberge nun dicke Luft herrschte.
Rixende, selbst müde und zerschlagen, schickte die Katharer zurück und ritt sogleich mit Ali nach Tarusco hinein. Dort suchte sie nach dem Schild eines Arztes. Der Preis allerdings, den jener dafür verlangte, den Kranken auch nur anzusehen, war stolz. Doch Rixende zahlte ohne Widerspruch die geforderte Summe im voraus. Wie hätte sie Ibrahim unter die Augen treten können, wenn sie nach Abu Ras einen weiteren seiner Männer verlor, ohne nicht zuvor alles Menschenmögliche für ihn getan zu haben.
Der Arzt, eine dürre Gestalt mit einem edlen Pelz um die Schultern und langen gepflegten Fingern, musterte den Kranken mit zusammengekniffenen Augen. Dann untersuchte er ihn unter Vermeidung jeglicher Berührung mit einem dünnen Weidenstecken, so als wäre er aussätzig, und schüttelte danach den Kopf. Als er auch noch aus übergroßer Dankbarkeit für das viele Geld, das er bekommen hatte, verächtlich hinter Hasrabal ausspuckte, der ihn zur Tür geleitete, riss bei Rixende der Geduldsfaden. Sie dachte daran wie es Lusitana ergangen war, und lief dem Mann hinterher.
„Herr, Ihr bleibt augenblicklich stehen und hört mich an!“
Der Arzt drehte sich um und sah völlig verblüfft auf Rixende.
„Was wollt Ihr noch, Frau. Da ist nichts mehr zu machen!“
„Hat man Euch nicht gelehrt, dass das, was angefangen wurde, auch zu Ende gebracht werden muss“, rief Rixende empört. „Ich habe Euch wahrlich nicht so fürstlich entlohnt, dass der arme Mann ohne jegliche Behandlung aufgegeben wird. Wenn Ihr nicht in der Lage seid, ihn zu
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