Rixende ... : Historischer Roman (German Edition)
sich als Trugbild herausstellte, wenn zukünftig keine Hoffnung mehr auf ein Wiedersehen mit dem Geliebten bestand?
Mit Macht verdrängte Rixende die üblen Gedanken. Statt dessen begann sie zu handeln. Sie holte aus der Sattelkammer eine Hacke und lief damit in den Hof zum Brunnen. Dort grub sie die steinharte Erde auf.
Zwei Stunden später drang noch immer schrille und aufreizende Flötenmusik an ihre Ohren, obwohl es schon dämmerte. Rixende saß in Fabris Studierzimmer. Sie hatte die Tür hinter sich abgeschlossen und ein Talglicht angezündet. Es war an der Zeit. Ihr Körper straffte sich. Sie beugte sich über die goldene Kapsel und vertraute ihr ihre Angst um Fulco an. Sie weinte, flehte, betete. Auf eine eigenartige Weise spürte sie die verborgene Kraft der Geheimen Worte, doch würde es ihr ein zweites Mal erlaubt sein, in die Zukunft zu sehen?
Von weitem hörte Rixende es donnern. Auch der Wind schien heftiger geworden zu sein, denn es zog plötzlich zum Fenster herein. Das Talglicht begann aufgeregt zu flackern, die Goldkapsel funkelte.
Rixendes Gedanken wanderten, ohne dass sie aufgehalten werden konnten, zurück in die Vergangenheit, und sie sah plötzlich in übergroßer Deutlichkeit ihre Mutter vor sich, wie sie laut schluchzend in den Armen der alten Na Roqua gelegen hatte, weil sie nach Brune nun auch noch Montane verloren hatte, ihre beiden Zwillingsmädchen, die wenige Jahre älter als Rixende gewesen waren. Sie waren an einer bösen Krankheit, die den Hals verengte, gestorben. Die Mutter so weinen zu sehen, diese sprühende, lebendige, wunderschöne Frau, die jedermann liebte und verehrte auf der Burg, war für ein kleines Kind wie Rixende verwirrend gewesen. Jetzt endlich verstand sie solchen Schmerz. Nun konnte sie auch nachvollziehen, was die Mutter gefühlt haben musste, als sie ein halbes Jahr darauf auch noch Simon und sie hatte hergeben müssen, wenige Tage vor ihrem bitteren Weg zum Scheiterhaufen. Und dennoch war sie unendlich tapfer gewesen, hatte sie beim Abschied nicht geweint, um ihre kleine Tochter nicht zu ängstigen.
Ein sonderbarer Schauer bemächtigte sich Rixendes, als das Bild ihrer Mutter wieder verblasste. Hatte sie gerade eine Botschaft empfangen? War nun sie an der Reihe, das Liebste herzugeben, das sie noch auf Erden hatte, den einzigen Menschen, an dem ihr Herz mit aller Leidenschaft hing? Aimeric war dieser Mensch nicht gewesen, obwohl sie unendlich traurig war, als sie von seinem Tod erfuhr. Auch um den alten Fabri hatte sie aufrichtig geweint - und natürlich vermisste sie ihren Bruder Simon.
Doch Fulco? Ihn weit weg in Avignon, in einer fremden Stadt, zu wissen, tat weh, den Geliebten jedoch für immer zu verlieren, das bräche ihr gewiss das Herz.
Mühsam unterdrückte sie ein Gähnen. Sie riss sich zusammen und begann erneut, für Fulcos Gesundheit zu beten. Dabei starrte sie unentwegt mit tränenfeuchten und zugleich brennenden Augen auf den Behälter mit den Geheimen Worten. Noch gab es Hoffnung, dass Fulco lebte. Noch konnte sie etwas für ihn tun.
Für eine Weile schloss Rixende die Augen. Doch dann schreckte sie wieder hoch. Was war das gewesen? Gerade hatte sie sich selbst gesehen! Das Feuer! Die Nacht, als der Scheiterhaufen in Carcassonne loderte, jene schrecklich schöne Nacht, in der sie voller Hass gewünscht hatte, Fulco von Saint-Georges und Abbéville möchten auf der Stelle tot vom Turm der Kathedrale fallen.
Wenn ihr vom Baume der Erkenntnis esset, werdet ihr wie Gott sein, wissend das Gute und das Böse, hatte ihr irgendwann der Lehrer, Bruder Paule gesagt.
Wissend das Gute und das Böse?
Hatte sie sich in dieser unheimlichen Nacht für das Böse entschieden?
Noch einmal donnerte es leise. Das Gewitter schien weit weg zu sein. Rixende warf einen skeptischen Blick auf das Fenster. Je schwärzer draußen die Nacht wurde, desto düsterer wurde offenbar ihr Herz. Das ist wohl die Tragik der Menschen, dachte sie bei sich, die Angst gebiert den Haß und die Liebe den Schmerz.
Rixende bettete den schweren Kopf auf ihre Arme, wobei sie die Kapsel fest umfangen hielt. Nur für einen kurzen Augenblick schloss sie die müden Lider.
Ein heftiger Donnerschlag schreckte sie auf. Rixende wusste erst gar nicht, wo sie war, doch dann konnte sie sich eines Lächelns nicht erwehren. Es war wohl ihr sehnlichster Wunsch gewesen, der ihr gerade diesen Traum beschert hatte, in dem Fulco lachend auf sie zugegangen war und sie umarmte. Wie sollte ich jemals
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