Robert Enke
hatte die Defensive geordnet und die Angriffe choreografiert, es war kein außergewöhnlicher |281| Fußball, bloß einer mit klaren Ideen. Das Fachwissen des Trainers wäre jedoch theoretisch geblieben, wenn Lienen nicht mit
seinen Gemeinschaftsaktionen am Esstisch und im Zoo etwas angestoßen hätte. In der Kabine zwei saß der harte Kern der Mannschaft,
nach der Sauna nur mit Handtüchern bekleidet, Bockwurst und Bier in den Händen. Michael Tarnat, Frank Juric, Vinícius, Robert
Enke und einige mehr, acht bis zehn Mann, später auch Hanno Balitsch, Szabolcs Huszti oder Arnold Bruggink vergnügten sich
beim Fachsimpeln und Unsinn machen; und unbemerkt entstand in Kabine zwei ein Mannschaftsgeist.
»Wetten, Mille, dass du es nicht schaffst, 15 Bockwürste mit Brötchen in einer halben Stunde zu essen«, sagte einer der Spieler.
Und Mille begann zu essen.
Die anderen holten sich noch ein Bier. Nach 13 Bockwürsten konnte Mille nicht mehr.
»Komm, wir machen ein Siebentagerennen.« Sie stellten Mülleimer, Wasserkästen und Fußbälle als Hindernisse auf, und Mille
kurvte mit seinem Fahrrad durch den Raum, durch den Parcours, »schneller, Mille«, aus der Kurve um den Mülleimer warf es ihn,
er stürzte schlimm. Aber Mille stimmte in das Gelächter der Fußballspieler ein. Er fühlte, den Narr zu geben sei die wichtigste
Aufgabe eines Zeugwarts.
»Es ist schön, Erfolg zu haben. Aber noch schöner ist es, Erfolg mit Freunden zu haben«, sagte Robert Enke. »Mannschaften
mit einem Zusammenhalt wie unserem findet man selten im Profifußball.«
In der Umkleidekabine saß er neben Michael Tarnat. Tarnat war bereits 36, er hatte bei Bayern München und bei der Weltmeisterschaft
1998 für Deutschland gespielt. Tarnats Vorstellungen, wie es in einer Profielf zugehen musste, stammten noch aus der vergangenen
Zeit Stefan Effenbergs. Wenn der 20-jährige Jan Rosenthal im Trainingsspiel den Ball mit einem Hackentrick verlor, foulte
ihn Tarnat in der nächsten Szene. Die Spielweise würde sich der Junge ganz schnell abgewöhnen. Robert Enke nahm Rosenthal
in den Arm und sprach ihm Mut zu, als er den Jungen nach einem schlechten Spiel verzweifelt, hyperventilierend |282| in der Toilette fand, über das Waschbecken gebeugt.
Innerlich war ihm die harte Art der Effenberg-Generation noch immer suspekt. Aber anders als damals in Mönchengladbach stand
er nun nicht mehr auf der Seite derer, die einsteckten, sondern bei denen, die den Takt vorgaben. Michael Tarnat war einer
seiner besten Kollegen in der Mannschaft. Tarnats kompromisslose, oft auch witzige Art, Missstände anzusprechen, half dem
Team, so viel war ihm jetzt klar. Aber er fand auch eine Antwort auf eine Frage, die er sich acht Jahre zuvor in seinen ersten
Wochen in Mönchengladbach gestellt hatte: Musste er auch so sein? Er musste nicht, und er würde es auch nie sein wollen.
In der Kabine zwei entdeckte er den Fußball. Bislang hatte ihn das Spiel nicht weiter interessiert, sondern nur die sehr spezielle
Aufgabe des Torwarts. Nun lauschte er Tarnat oder Balitsch, wie sie diskutierten. Er begann, über das Spiel wie ein Trainer
nachzudenken: Musste sich einer der defensiven Mittelfeldspieler häufiger in den Angriff einschalten? Warum schlugen sie nicht
mehr Querpässe vom rechten Außenverteidiger auf den entfernten Innenverteidiger, um das Pressing des Gegners zu umgehen? Wie
fast alle, die irgendwann Fußball strategisch wahrnehmen, fühlte sich Robert Enke plötzlich bereichert. Gleichzeitig fragte
er sich, was es für eine Verschwendung gewesen war, Fußball jahrelang nur oberflächlich zu schauen.
Fußball, der die Welt jedes Wochenende wieder scheinbar eindeutig in Sieger und Verlierer einteilt, verführt oft die klügsten
Beobachter zu einer vereinfachten Sichtweise. Das musste er einsehen, kaum hatte im August 2005 seine zweite Saison in Hannover
begonnen. Hannover 96 hielt mühsam Anschluss an das Mittelfeld der Liga. Das war, gemessen an den Möglichkeiten des Vereins,
passabel. Aber niemand außerhalb der Kabine zwei schien die Elf noch an ihren Möglichkeiten zu messen, sondern an dem tollen
zehnten Platz des Vorjahres. Mit Hanno Balitsch und Thomas Brdarić waren zwei sporadische Nationalspieler hinzugekommen, musste
die Elf da nicht noch besser sein? Stattdessen verlor sie Ende Oktober 1:4 in Bielefeld. Eine Woche später |283| spielte Hannover noch schlechter und lag nach 65 Minuten 0:2 gegen
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