Robert Enke
Mainz zurück. Die Zuschauer schrien: »Wir haben die Schnauze
voll!«, »Lienen raus!«
Die Männer aus Kabine zwei wussten, ihre Elf machte eine dieser Phasen durch, in denen wenig klappt, die es immer wieder gibt
bei einem Mittelklasseteam. Doch sie ahnten, dass der Vereinsmanager Ilja Kaenzig das nicht mehr sah, unter Einfluss der Hysterie
des Publikums, gefangen in der eigenen Idee, dass es diese Saison noch höher, immer weiter hinaufgehen müsse. Bei einem 0:2
würde der Manager den Trainer, ihren Trainer entlassen.
Ewald Lienen, innerhalb der Mannschaft väterlich verständnisvoll, in der Öffentlichkeit dünnhäutig, hatte seine Position mit
patzigen Medienauftritten nicht gerade gestärkt.
Vier Minuten vor Spielende erzielte Brdarić mit einem Elfmeter das 1:2. In der letzten Spielminute, die schon 180 Sekunden
andauerte, schob Tarnat aus einem Gewühl den Ball zum 2:2 ins Tor. Tarnat war der Erste, der zur Seitenlinie lief, zu ihrem
Trainer. Im Nu wurde es eine Demonstration. Alle Spieler stürzten sich jubelnd auf Lienen. Robert Enke hatte aus seinem Tor
den weitesten Weg. So konnte er sich ganz oben auf den Menschenberg werfen.
Kaenzig schwankte.
Es braucht einen nervenstarken und vor allem einen fachlich kompetenten Manager, der »Trainer raus!«-Rufe ignoriert. Es gibt
nicht viele Manager, die in der Nähe der Abstiegsränge reflektieren. Die Spielautomatismen funktionieren noch, es herrscht
unverändert ein konstruktives Arbeitsklima in der Mannschaft, wir werden da wieder rauskommen, der Trainer bleibt.
Kaenzig tagte zwei Tage nach dem 2:2 drei Stunden lang in einem Messehotel mit Lienen. Danach sagte er ihm, also gut, machen
wir erst einmal weiter.
Am nächsten Morgen zog sich Lienen zum Training um, er trug bereits die Fußballschuhe und die marineblaue Windjacke, als Kaenzig
eintrat. Es tue ihm leid, aber er habe entschieden, ihn zu beurlauben.
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13. Mai 2006: Robert mit Lara nach dem Sieg über Bayer Leverkusen in Hannover. [21]
Die Mannschaft wurde in einen Sitzungssaal bestellt. Die Wut, aus der Meutereien entspringen, pochte in etlichen Spielern.
»Wir haben keine Krisensituation, aber wir haben eine Stagnation festgestellt«, sagte der Manager. Die Spieler saßen mit verschränkten
Armen vor ihm und schwiegen. Ein Profi hat die Entscheidungen seiner Vorgesetzten klaglos zu akzeptieren, er muss zur Not
auch gegen die eigene Meinung dem Verein dienen. Das ist das ungeschriebene Grundgesetz des Fußballs. Auf einmal stand ein
Spieler auf. Robert Enke sprach mit ruhiger, deutlicher Stimme. »Die Entscheidung des Vereins haben wir als Angestellte zu
respektieren. Aber die Art, wie Sie den Trainer rausgeworfen haben, ist unwürdig. Das ist ganz schlechter Stil.«
Konflikte waren ihm noch immer unangenehm. Gestärkt nach der Depression, hatte er bloß gemerkt, dass er sie auch sachlich,
gefasst austragen konnte.
Im Januar 2006, 16 Monate alt, überstand Lara auch die dritte Herzoperation. »Die lebensgefährliche Phase ist vorüber«, sagte |285| Robert. Stolz beobachteten die Eltern ihr Kind. Es hatte die blonden Haare des Vaters, während sich in der Augenpartie die
Mutter erkennen ließ. Mit einigen Monaten Verspätung lernte Lara zu sitzen. Irgendwann griff sie nach einem Stuhl und versuchte,
sich auf ihre wackligen Beine zu ziehen. Wenn die Eltern mit ihr redeten, bewegte sie den Mund, als wolle sie sprechen. Es
kam kein Wort heraus. »Richtig gesund wird Lara nie werden«, sagte Robert und klang einerseits nüchtern, andererseits wie
ein glücklicher Vater, der seinem Kind alles zutraut.
Was auffiel, war, wie oft Lara lachte. Wenn sie einen der Hunde sah, wenn ihr Vater für sie mit den Augen rollte, wenn ihre
Mutter eine Baseballmütze trug. Für Ela, die Haushälterin, war Lara ein Kind, das man eben nicht mit dem Gläschen fütterte,
sondern künstlich ernährte, das halt noch nicht laufen konnte. Ela behandelte Lara ohne Berührungsängste, ohne Furcht, dass
ihr etwas passieren könnte. Sie nahm die Kleine mit zum Einkaufen oder zu anderen Kindern. Ela zeigte den Eltern etwas, ohne
es zu bemerken: Es ging doch. Es gab, auch für Lara, eine Normalität. Oder zumindest die Imitation der Normalität.
Im März wurde sie von 37 000 bejubelt. Teresa hatte sie ins Stadion mitgenommen. Als Hannover den 1.FC Köln 1:0 besiegt hatte und auf den siebten Bundesligarang
vorgerückt war, nahm Robert Enke Lara mit auf die
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