Robert Enke
Stimme »Hallo?« rief. Die Kinder aus
dem Dorf schauten unangekündigt bei ihnen vorbei. Für Kinder war ihr Haus die Villa Kunterbunt, das Tor zum Garten stand immer
offen.
In dieser Zeit ging auf der Geschäftsstelle von Hannover 96 ein achtseitiges Fax für ihn ein. Der Bundestrainer lud ihn für
das Länderspiel am 27. März 2007 in Duisburg gegen Dänemark ein (und erinnerte ihn des Weiteren daran, dass zur Vorlage beim
Schiedsrichter ein gültiger Reisepass oder Personalausweis benötigt wurde).
Es war nicht mehr zu übersehen, dass es Bundestrainer Joachim Löw ernst mit ihm meinte. In einem Alter, in dem Nationalmannschaftskarrieren
allenfalls enden, sollte er sein erstes Länderspiel bestreiten. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch einmal Nationalspieler
werde, immerhin bin ich schon fast dreißig.« – »Mach dich nicht älter, als du bist, noch bist du neunundzwanzig«, sagte der
Bundestorwarttrainer Andreas Köpke.
Nach der Weltmeisterschaft 2006 war Oliver Kahn aus der Nationalelf zurückgetreten, Jens Lehmann hatte mit siebenunddreißig
nur noch eine überschaubare Zukunft als Nummer eins. Das Tor war offen und Robert Enke nach Timo Hildebrand der aussichtsreichste
Bewerber.
Als Dänemarks Trainer Morten Olsen vor dem Spiel die Aufstellung von Bundestrainer Löw erfuhr, murrte er. Dieser Gegner war
ihm zu schwach. Es war ein Testspiel, Olsen wollte eine harte Prüfung für seine Elf. Löw wollte potenzielle Nationalspieler
testen. Sieben Spieler in der deutschen Elf, von Robert Enke bis Jan Schlaudraff, kamen gemeinsam nicht einmal auf die Erfahrung
von zehn Länderspielen. Ihnen sollte die Zukunft gehören. Die steilste Karriere aller Neulinge in Duisburg machte dann allerdings
der Schiedsrichter. Howard Webb, internationa |307| auch ein Anfänger, würde 2010 das Weltmeisterschaftsfinale leiten.
»Enke fliegt«: Roberts phänomenale Paraden im Tor. [24]
Im Tunnel vor den Umkleidekabinen, bevor es hinausging, stand Robert Enke der Haarschopf zu Berge. Er hatte mit den Handschuhen
darin gewühlt. Die Lippen waren schmal. In den Augen lag Nervosität, keine Angst.
Das Spiel ließ ihm keine Zeit zum Grübeln. Eine Minute war gerade vorüber, da flog ein Freistoß vom linken Flügel herein,
der Däne Daniel Agger stieg sieben Meter vor dem Tor hoch, unbedrängt, ein Kopfball der besten Schule, fest, auf das rechte
Toreck gezielt. Robert Enke hatte den Ball noch nicht berührt in diesem Spiel. Er lag parallel zur Torlatte in der Luft, der
Rücken gebogen von der Körperspannung. Einhändig lenkte er den Ball um den Pfosten. Solche Paraden halten alle, die selbst
nie Torwart waren, für die größten Taten eines Torhüters.
Kurz vor der Halbzeit lief der Däne Thomas Kahlenberg allein mit dem Ball auf ihn zu. Robert Enke blieb einfach stehen. Für
das ungeübte Auge machte er gar nichts. Er berührte den Ball auch nicht, als Kahlenberg an ihm vorbeilief, »Kahlenberg umdribbelte
Enke«, schrieben die Sportreporter. Tatsächlich hatte Enke die größte Tat des Abends vollbracht. Er hatte dem dänischen Stürmer
die Schussbahn auf das Tor so geschickt und so lange versperrt, dass Kahlenberg nur noch links an ihm vorziehen konnte und
dort zwangsläufig mit dem Ball ins Toraus lief. »Viel Ausstrahlung und hervorragende Reaktionen«, attestierte ihm der Bundestrainer
nach dem Spiel. Robert Enke nannte das Debüt »ganz vernünftig«.
|308| Deutschland hatte 0:1 verloren. Die Sportreporter im Kabinengang wollten einen Gewinner aus ihm machen. Nun könne er doch
Anspruch auf die Position des deutschen Ersatztorwarts erheben, oder?
»Sie wissen ganz genau, dass Sie darauf von mir keine Antwort bekommen.«
Sehe er sich nach diesem Spiel nicht vor Timo Hildebrand im Kampf um die Nummer zwei?
»Sie dürfen nicht vergessen, dass ich erst zum dritten Mal nominiert wurde und Timo schon viel öfter.«
Deutschland definierte sich als gelobtes Land des Torwarts, die Heimat von Sepp Maier, Toni Schumacher, Oliver Kahn. Da reichte
selbst die langweiligste Frage für eine überdrehte Debatte: Wer würde der Ersatztorwart des Landes?
»Ich werde nie öffentlich sagen, der oder dieser Kollege ist schlechter als ich, ich stehe vor ihm. Ich weiß, was Respekt
ist.«
Die Sportreporter waren enttäuscht. Was war nur aus den deutschen Torhütern geworden? Zettelten sie gar keinen Krawall mehr
an? Wenigstens blieb ihnen Lehmann noch eine Weile,
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