Robert Enke
vorderen Pfosten,
zur Torlinie. »Wenn du in der Mitte stehst, kannst du Flanken in den Rücken des Torwarts oder weit im Strafraum runterholen,
wo du sonst nie hinkommst«, erklärte ihm Köpke. Genau dasselbe hatte Álvaro Iglesias, der Zweitligatorwart aus Teneriffa,
schon vor fünf Jahren Robert erklärt. Nun, da es ihm Köpke gesagt hatte, versuchte er, sich im Training Meter um Meter Cechs
Position anzunähern.
Als am 2. August die Saison mit einem Pokalspiel gegen den Viertligisten Eintracht Trier begann, war er angespannt. Er hielt
es für den normalen Zustand. Es ging wieder los.
Das Moselstadion in Trier hatte niedrige Tribünen mit hellblauen Wellblechdächern, es war nicht einmal ausverkauft. Zur Halbzeit
führte Hannover 1:0 und hätte zwei, drei Tore mehr erzielen können. Trier zog Kraft aus dem geringen Rückstand. Alles war
noch möglich. Euphorisiert vom Rampenlicht rannte der Regionalligist. Eine Flanke flog auf die Fünfmeterlinie vor Robert Enke,
er sah noch den Trierer Martin Wagner dem Ball entgegensprinten und stürzte heraus, er breitete die Arme aus, um das Tor vor
Wagner klein zu machen. Doch der hatte schon zum 1:1 getroffen. Niemand macht einen Torwart für solch ein Tor verantwortlich.
Nur der Torwart selbst. Er war zu spät gekommen. Vier Minuten später stand es 2:1. Seine vom Ausgleich verwirrte Abwehr hatte
ihn alleine gegen zwei Trierer gelassen.
Der Gedanke ließ sich nicht unterdrücken: Trier war Novelda.
Der Spielverlauf war exakt derselbe. Selbst die Spielminuten, in denen der Gegner seine ersten zwei Tore markierte, stimmten
beinahe überein. Dass Trier 3:1 statt wie Novelda 3:2 gewann, kam auf dasselbe hinaus.
Die Saison war erst ein Spiel alt, und bei Hannover 96 |365| schwand schon der Glaube, dass es gut enden könnte. Einen Sommer lang hatten sich die Spieler und Trainer Dieter Hecking bemüht
und sich eingeredet, es könnte doch noch etwas werden mit ihnen. Doch diese eine Niederlage brachte in der Mannschaft wieder
all die destruktiven Gedanken hervor: Das Spielsystem mit einem defensiven Mittelfeldspieler und zwei Stürmern funktionierte
doch nicht, sie waren keine echte Mannschaft mehr, wann erlöste der Verein sie endlich vom Trainer, es musste doch für den
Trainer selbst eine Qual mit ihnen sein.
Robert zwischen Hanno Balitsch (hinten) und Mikael Forssell (vorne) im Trainingslager von Hannover 96. [29]
Die Gedanken wüteten in Robert Enkes Kopf, und immer wieder kam er zum selben Schluss: Es konnte doch gar nichts mehr werden.
Die schwarzen Gedanken vervielfachten sich, unter ihrem Gewicht wurde sein Kopf bleiern schwer, und plötzlich |366| wurde ihm klar, was er seit Juli ausbrütete; welche Krankheit durch die Niederlage in Trier schließlich ausgebrochen war.
Er besaß einen Moleskine-Taschenkalender, in dem er seine Termine notierte. Unter Mittwoch, 5. August 2009, hatte er »10 +
15.30 Uhr Training« geschrieben. Unvermittelt fügte er nun an:
Im Moment ist es verdammt schwer, positiv zu sein. Es hat mich diesmal ziemlich schnell und unerwartet getroffen. Habe mit
Terri geredet und ihr von meinem Bedürfnis berichtet, mich mitzuteilen. Ich weiß selber, dass das nicht geht.
Er fragte sich: Warum jetzt? Die erste klinische Depression hatte ihn getroffen, als er sich 2003 beim FC Barcelona als missachteter
Ersatztorwart wertlos gefühlt hatte. Aber diesmal sah er keinen solch klaren Auslöser.
Er fand keine Antwort, warum die schwarzen Gedanken im Sommer 2009 wiederkamen – und niemand wird die Antwort jemals geben
können.
Es gab einiges, was zu jenem Zeitpunkt auf ihm lastete. Er spürte den selbst gemachten und durch die Medien multiplizierten
Druck, sich ab jetzt, in der Saison seines Lebens, keinen einzigen Fehler erlauben zu dürfen, wenn er Deutschlands Nummer
eins werden wollte. Die angespannte Lage bei Hannover 96, in der er als Kapitän zwischen den Fronten stand, zerrte an seinen
Nerven. Laras Tod war immer präsent, auch wenn er mit ihrem Abschied fast zwei Jahre lang so gut es ging zurechtgekommen war,
aber den Tod eines Kindes kann man nie vergessen. Es ist möglich, dass diese Last die Düsternis zurückbrachte. Aber genauso
möglich ist es, dass eine ganz andere Ursache seine zweite klinische Depression auslöste, vielleicht ein winziger Stressfaktor,
den weder Robert Enke oder sein Psychiater noch irgendwer sonst erkannte. Depressionen brechen nicht nach einem Schema
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