Robert Enke
aus.
Wenn ein Mensch anfällig für die Krankheit ist, kann es sein, dass er regelmäßig die extremsten Stresssituationen problemlos
übersteht und in einem bestimmten Moment von einer – von außen betrachtet – geringeren psychischen Belastung aus der Bahn
geworfen wird.
|367| Er dachte, er wisse, was zu tun sei. Er musste morgens zeitig aufstehen, am besten gleich Leila wickeln, beim Frühstück nicht
lange sitzen bleiben und auf zum Training. Wenn er den Tag strukturiert begann, wenn er eine Sache nach der anderen erledigte,
fand die Angst keine Lücke, um in seinen Kopf einzudringen. Das Entscheidende war der Morgen. Er wachte mit der Angst vor
dem Tag auf, und wenn er nur einen Moment länger liegen blieb, würde die Angst ihn gefangen nehmen.
Hanno Balitsch wunderte sich über seinen Fußballfreund. Robert biss sich ständig auf den Lippen herum und redete kaum noch.
Selbst wenn er auf dem Trampelpfad zwischen den anderen Spielern vom Trainingsplatz zurück zu den Umkleidekabinen dahintrottete,
strahlte er etwas Abweisendes aus. Sein Blick fokussierte sich auf nichts mehr. Er schaute durch die Mannschaftskollegen hindurch.
Die Feldspieler ließen nach dem Training auf den 200 Metern zurück zu den Umkleidekabinen ihre Fußballschuhe mit den kurzen
Plastikstollen an. Die Torhüter tauschten ihre Fußballschuhe mit den langen Aluminiumstollen gegen Turnschuhe, weil das letzte
Stück über den Stadionparkplatz sonst zu unangenehm geworden wäre. Hanno nutzte die Gelegenheit, dass Robert beim Schuhwechsel
einen Moment allein auf dem Rasen kniete.
»Verlässt du das sinkende Schiff, Robs?«
»Was meinst du?«
Hanno hatte überlegt, was den Freund belasten könnte. Und da war ihm eingefallen, was Robert ihm unlängst anvertraut hatte.
Er könnte noch vor dem Bundesligastart zu Schalke 04 wechseln, falls Bayern München doch noch Schalkes Torwart Manuel Neuer
loseise. Schalkes Trainer Felix Magath hatte für den Fall schon einmal bei Robert Enke vorgefühlt.
»Nein, da tut sich nichts«, antwortete Robert Hanno.
»Aber irgendetwas bedrückt dich?«
»Ja, aber das kann ich dir jetzt nicht sagen.«
»Okay.«
Hanno Balitsch fragte nicht weiter. Ihn und Robert verband |368| eine Freundschaft mit klaren Grenzen. Über private Sorgen sprachen sie nicht. Hanno hatte das Gefühl, »Robs war nicht der
Typ, der damit umgehen konnte, wenn du ihm Intimitäten anvertrautest wie ›Du, ich habe gerade zu Hause Probleme‹. Das wäre
ihm unangenehm gewesen.«
Sie gingen die letzten Meter zu den Umkleidekabinen. Nur Hanno Balitschs Fußballschuhe klackerten auf dem Asphalt des Parkplatzes.
Zu Hause sagte Robert zu Teresa: »Scheiße, Hanno hat etwas gemerkt.«
Am Nachmittag suchte er irgendetwas, das er tun konnte, mit dem er sich beweisen würde, dass er die Dinge noch auf die Reihe
bekam. Er reinigte den Whirlpool. Er spürte keine Besserung. Er wurde wütend: Wie sollte auch vom Whirlpoolreinigen irgendetwas
besser werden, wie sollte es überhaupt jemals wieder gut werden?
Beim Abendessen dachte Teresa laut nach. Vielleicht sollten sie irgendjemanden einweihen, wenigstens die engsten Freunde,
damit er sich nicht überall verstellen musste?
Vor dem Training am nächsten Morgen fragte er Hanno, ob er eine Minute Zeit habe.
»Hattest du mal einen Berührungspunkt mit Depressionen?«
»Nein«, antwortete Hanno vorsichtig und dachte sich, jemanden in Roberts Familie musste es erwischt haben.
»Ich habe damit gerade richtig Probleme.«
Hanno Balitsch sagte der Begriff Depressionen natürlich wie den meisten etwas. Aber als er auf dem Nachhauseweg darüber nachdachte,
was das für eine Krankheit war, merkte er, dass er sich darunter überhaupt nichts Konkretes vorstellen konnte.
Hanno kaufte sich das Buch
Mein schwarzer Hund
von Matthew Johnstone. Es ist ein kleines Bilderbuch, in dem ein junger Mann mit prächtiger Haartolle von einem schwarzen
Hund verfolgt wird. Wenn der schwarze Hund auftaucht, macht dem Mann nichts mehr Freude, er kann sich auf nichts mehr konzentrieren,
nichts mehr essen, er hat nur noch Angst vor dem |369| schwarzen Hund. Und er schämt sich so für seine Angst, dass er niemandem von dem schwarzen Hund erzählt – was alles nur schlimmer
macht: »Eine emotionale Lüge durchzuhalten kostet unglaublich viel Kraft«, sagt der Mann im Bilderbuch. »Wie ich meine Depression
an die Leine legte« lautet der Untertitel der Fibel.
»Ein
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