Robert Enke
verschwunden. Einer der Physiotherapeuten hatte ein Poster von Ersatztorwart Florian Fromlowitz darübergeklebt. Eine kleine
Geste, um dem Jungen Mut zu machen vor der schwierigen Aufgabe, den Nationaltorwart zu vertreten. Robert Enke sagte nichts
und ging aus dem Raum.
Er nahm auf der Tribüne Platz. Es dauerte noch eine Weile bis zum Anpfiff, die Mannschaften wärmten sich erst auf. Er hatte
keine Lust, angesprochen zu werden, und schnappte sich die Stadionzeitung, um sie in seinen Schutzschild zu verwandeln. Er
blätterte und blieb bei der Karikatur hängen. Fromlowitz war als Ziegelsteinmauer vor dem Tor abgebildet.
Was sollte das, hatten sie ihn hier schon abgeschrieben? Glaubten auf einmal alle, Fromlowitz sei der tolle Torwart?
Hannover gewann 5:2 gegen Freiburg, Fromlowitz spielte ordentlich, und Robert Enke nahm den Jubel der Zuschauer als Affront
gegen sich wahr. Brauchte ihn hier niemand mehr, hatten sie ihn schon vergessen, war er nur noch ein Gesicht von gestern,
das einfach mit einem neuen überklebt wurde?
In Empede versuchte Teresa, ihn mit Logik zu erreichen. Es war doch verständlich, dass die Physiotherapeuten versuchten, den
Ersatztorwart aufzubauen, das war doch nicht gegen ihn gerichtet. Außerdem käme niemand auf die Idee, dass Fromlowitz eine
Konkurrenz für ihn sei. Sobald er zurückkehrte, würde er wieder spielen.
»Du hast ja recht«, sagte er, und an der abrupten Bewegung, mit der er sich abwandte, konnte Teresa erkennen, dass sie ihn
mit Logik schon wieder nicht mehr erreichte.
Sie hoffte auf den nächsten Morgen. Vielleicht war es nur ein schlechter Tag gewesen?
Wenn sie sonntagmorgens aufwachte, hatte Teresa in der halben Sekunde, die sie zur Orientierung brauchte, früher oft ein Schrecken
durchfahren: »Was war noch mal gestern, gewonnen oder verloren?« Sie wusste, von der Antwort war abhängig, wie schön der Sonntag
wurde. Nun durchzuckte sie der Schrecken wieder, mit einer anderen Frage: In welcher Stimmung würde er aufwachen?
Er fühlte sich nicht schlecht, aber auch nicht gut.
|392| In den nächsten Tagen wollte er morgens wieder nicht aufstehen.
Teresa log: »Ich habe solche Bauchschmerzen, kannst du bitte mal zehn Minuten auf Leila aufpassen?« So bekam sie ihn aus dem
Bett, hinein in den Tag.
Er kämpfte sich durch den Tag, aber eine Angst war zurück, die Ursprungsangst: die Angst, dass all die Ängste wiederkamen.
Am Wochenende fuhr er wie an fast allen freien Tagen nach Köln zu Valentin Markser. Samstags kam ein Fußballspiel im Fernsehen.
Russland gegen Deutschland, das Rückspiel in der Weltmeisterschaftsqualifikation. Fast genau ein Jahr war seit dem Hinspiel
vergangen, vor dem er sich das Kahnbein gebrochen hatte. Wieder saß er vor dem Fernseher, wieder spielte René Adler hervorragend,
wieder machte ihn der Kommentator noch ein wenig besser. Durch einen 1:0-Sieg qualifizierte sich Deutschland für die Weltmeisterschaft
in Südafrika, die der Höhepunkt seiner Karriere werden sollte. Die Fernsehbilder zeigten den Jubel der deutschen Mannschaft,
triumphierend reckten sie die Fäuste in die Luft, und ihm kam es vor, als schlügen die Fäuste der glücklichen Kollegen in
sein Gesicht.
Vier Tage später brach er das Training in Hannover ab.
Er glitt wieder in die Vergangenheit ab. Er konnte nicht aufhören, an die vier, fünf hellen Tage Ende September zu denken.
Warum hatte er damals plötzlich wieder gelebt, und warum vor allem war die Krankheit dann wieder zurückgekehrt? Was nur hatte
er falsch gemacht, dass die Dunkelheit ihn wieder überraschen konnte? »Es ist vorbei, Terri, ich habe die Chance gehabt rauszukommen
und habe sie verpasst.«
»Robbi, stell dir zum Beispiel vor, du ziehst nach Lissabon und hast vorher keinen Sprachkurs gemacht. Da sagst du doch auch
nicht, jetzt ist es zu spät, ich kann nie mehr Portugiesisch lernen.«
»Super Beispiel.«
»Es ist nicht zu Ende! Es ging dir kurzzeitig besser, das spricht nur dafür, dass es dir bald richtig besser gehen kann.«
|393| Sie begleitete ihn nun häufig zum Training. Er sollte sich nicht einsam fühlen. Und vor allem sollte er so wenig wie möglich
unbeaufsichtigt sein.
Der Torwarttrainer nahm seine drei Schützlinge abwechselnd in die Mangel. Teresa stellte sich an die Seitenlinie, auf Höhe
des Tors. Die Pensionäre, die jeden Tag kamen, standen näher am Mittelkreis, im Zentrum. Der Torwarttrainer schoss den Ball
volley aufs
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