Robert Enke
geendet hatte, herrschte Stille. Schließlich wurde einem der Freunde wieder die eigene Anwesenheit bewusst, er begann
zu applaudieren, hastig stimmten die anderen ein. Sie klatschten |234| immer heftiger, damit der Lärm den Schimmer aus ihren Augen vertrieb.
Es ist zwei Uhr nachts, Teresa liegt schon im Bett, vor dem Fenster ist der Golfplatz von Sant Cugat nur noch eine schwarze
Wand. Er sitzt am Schreibtisch und lässt die Aufzeichnungen sinken. Die Blätter liegen vor ihm, die krakelige Schrift mit
den windschief nach links oben gebogenen Buchstaben lässt keine Zweifel. Das hat er geschrieben.
Er mag nicht glauben, dass er dieser Mensch war, den er in seinem Tagebuch der letzten fünf Monate beschrieben hat.
Gerade hat er sich seine Aufzeichnungen zum ersten Mal durchgelesen, es ist Januar 2004, ein neues Jahr. Existiert der alte
menschliche Traum tatsächlich, den alten Kalender abzuhängen, und schon ist ein Schlussstrich gezogen, es geht von vorne los?
Es scheint fast so.
Die meisten Betroffenen erleiden nur einmal im Leben eine Depression, in der Regel dauert sie zwischen drei und sechs Monaten.
Er würde nicht so weit gehen zu sagen, ich gehöre zu dieser Gruppe, ich habe es hinter mir. Was er fühlt, ist: Diese Monate
sind ihm bereits unheimlich fern. Er sieht sein fremdes Ich nur noch schwammig, in Umrissen, ein Mensch, der nichts mit ihm
zu tun hatte, der aus unerklärlichen Gründen in seine Haut geschlüpft war.
Stiller Tatendrang erfüllt ihn. Er wird wieder Fußball spielen, er weiß noch nicht wo, das Angebot von Manchester City hat
sich zerschlagen, er weiß nicht, ob er jemals wieder das Niveau von Lissabon erreichen wird, aber das spielt auch keine große
Rolle. Er hat eine sehr konkrete Vorstellung vom Glück. Er wird in irgendeinem Tor stehen, er wird irgendeinen Schuss halten
und spüren, wie er damit andere, die Zuschauer, die Mitspieler, glücklich macht. Er wird mit Teresa und den Hunden spazieren
gehen, auf dem Waldweg wird sie die Hunde von der Leine lassen, die Hunde werden laufen, er wird den Arm um Teresa legen und
ihr Lächeln spüren, ohne hinzusehen.
Teresa ist schwanger.
|235| Sie wissen es seit neun Tagen. Es muss in der Euphorie der Kölner Adventstage passiert sein.
Die Nachricht hat Teresa schockiert, sie hatte sich nach der Depression eigentlich nur ein bisschen Ruhe gewünscht. Aber er
hat sich gefreut; sie freut sich mittlerweile auch.
Wenn es ein Mädchen wird, haben sie schon einen Namen. Lara.
Unter der Schreibtischlampe sucht er einen Stift, ein Blatt Papier. Er muss noch etwas zu Ende bringen.
16. 01. 2004, 02.00 Uhr. Ich bin im Moment glücklich u. zufrieden. Wir hatten ein richtig schönes Silvester im Café Delgado. Ich habe
gelacht und getanzt – unglaublich!
Er sucht einen Ordner für seine Depri-Unterlagen, das sind seine Worte, Depri-Unterlagen, Depri-Ordner. Er findet eine Mappe,
knallrot, er legt die Aufzeichnungen hinein, auch das Zwergengedicht, und schließt die Mappe.
|236| DREIZEHN
Die Ferieninsel
Nachmittags hatte er Zeit, sich das Leben anzusehen. Er spazierte zum Hafen von Santa Cruz auf Teneriffa. Nachdem er eine
Weile müßig herumgestanden war, entdeckte er eine Mauer und schwang sich hinauf. Von hier reichte der Blick über den Quai
der Kreuzfahrtschiffe bis hinauf zu den Kränen und Containern der Frachtverladung. Dahinter wuchsen die zackigen Berge der
Insel direkt aus dem Atlantik.
Robert Enke saß auf der Mauer und bewegte sich nicht. Er sah den Menschen im Hafen zu. »Wie gut gelaunt sie sind«, dachte
er sich und fühlte, er war wieder einer von ihnen.
Am letzten Tag der Wintertransferphase war er zum Club Deportivo Teneriffa gewechselt. Die Angebote, zwischen denen er hatte
wählen können, sagten ihm einiges über seinen neuen Ruf im Profifußball. AC Ancona, Tabellenletzter in Italien, FC Kärnten,
Tabellenletzter in Österreich, und ADO Den Haag, Tabellenvorletzter in den Niederlanden, warben um ihn. Da ging er lieber
nach Teneriffa, in die Zweite Liga.
Damit hatte er für die deutsche Fußballszene aufgehört zu existieren. Nur die, die ihn persönlich kannten, suchten zwischen
den klein gedruckten Auslandsresultaten im
Kicker
noch nach Lebenszeichen. Peter Greiber, der Torwarttrainer aus Köln, schickte ihm eine SMS, als er von einem 1:0-Sieg Teneriffas
las. »Glückwunsch, zu null gespielt.« Robert Enke schrieb zurück: »Danke. Leider stand ich gar nicht im
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