Roberts Schwester
er.
«Seit Tagen nehme ich mir vor, mit dir darüber zu sprechen, und schiebe es vor mir her. Aber einmal musst du es ja erfahren. Ich habe vor einiger Zeit eine Frau kennen gelernt.»
Vor einiger Zeit, sagte er. Ob es sich dabei um Wochen oder Monate handelte, ließ er offen. Ich ging von ein paar Wochen aus, von der Zeit eben, die ich bei Lucia in Spanien und Robert mit Olaf Wächter in der Schweiz verbracht hatte. Er hob die Achseln, ein untrügliches Zeichen von Unbehagen und Unsicherheit.
«Sie ist noch sehr jung, Mia», sagte er.
«Und sie hat es nicht leicht gehabt bisher. Ihre Eltern hat sie sehr früh verloren und sich allein durchschlagen müssen. Du kannst dir denken, dass es für ein junges Mädchen unter solchen Umständen nicht gerade einfach ist. Man trainiert sich etwas an, das auf andere wie Kampfgeist wirkt. Wenn man zeigt, wie verletzlich man ist, hat man schon verloren. Ich sagte das nur, damit du aus ihrem Verhalten keine falschen Schlüsse ziehst. Im Grunde ist sie sehr naiv und ein bisschen hilflos. Du kennst diesen Typ, gutmütig, gutgläubig, ein leichtes Opfer für jeden, der nichts Gutes im Sinn hat. Die Stacheln sind nur eine Attrappe.»
Und ob ich diesen Typ kannte. Er saß mir gerade gegenüber. Seine ausführliche Erklärung zeigte, dass er bereits zu einem Urteil gekommen war und nun befürchtete, ich könne zu einer anderen Einschätzung gelangen.
«Ich möchte, dass du sie kennen lernst», sagte er.
«Und ich möchte, dass du weißt, wie ernst es mir diesmal ist. Sie bedeutet mir sehr viel, Mia. Wenn du einverstanden bist, werde ich sie für das nächste Wochenende einladen.»
Er hätte sie vermutlich schon gerne über die Feiertage ins Haus geholt. Das Fest der Liebe. Dass er darauf verzichtete, beeindruckte mich stark. Mit dem nächsten Wochenende war ich einverstanden. Und ich war in keiner Weise voreingenommen, das muss ich ausdrücklich betonen. Ich schätzte Roberts Menschenkenntnis nicht viel geringer ein als meine eigene. Hätte er nicht selbst ein gerüttelt Maß davon besessen, wäre er nicht regelmäßig binnen weniger Wochen zu derselben Ansicht gelangt wie ich. Und ich habe ihm seine Ansichten nicht eingeredet! Er beendete eine Affäre nicht mir zu Gefallen, auch wenn es auf Außenstehende, speziell auf Olaf Wächter, vielleicht so wirken mochte. Nach Roberts Erklärung setzte sich in meinem Kopf eine bestimmte Vorstellung fest. Eine junge Frau, die gelernt hatte, sich in der Welt zu behaupten. Es mochte ihr manchmal schwer fallen, aber sie schaffte es, setzte sich durch und sehnte sich dabei nach einem Platz, an dem sie nicht kämpfen und keine Stacheln zeigen musste, an dem sie um ihrer selbst willen geliebt wurde. Guter Gott, ich dachte tatsächlich, er hätte die ideale Frau gefunden. Und dann kam sie, Isabell Torhöven. Sie kam mit dem Zug, Robert holte sie am Bahnhof ab. Schon als ich sie auf das Haus zukommen sah, fiel mir ihr Blick auf. Ein sehr abschätzender Blick und ein sehr flinker. Ihre Augen waren überall gleichzeitig, als könne sie nicht schnell genug alles in sich aufnehmen und ausrechnen, wie viel es wert sein mochte. Es hatte nichts mit Stacheln zu tun, nichts mit kämpferischem Verhalten und Sich-selbst-Behaupten. Es war nur ein Ausbaldowern, so nannte man das wohl in ihren Kreisen. Allein der Weg vom Bahnhof zu uns heraus musste ihr klar gemacht haben, dass wir nicht eben arm waren. Vornehme Wohngegend nannte es sich. Je näher man dem Stadtrand kam, umso größer wurden die Grundstücke und umso weiter lagen die Häuser von der Straße entfernt. Unsere Einfahrt war etwa dreihundert Meter lang. Und das Haus war sehr groß. Man sah ihm an, dass es mit einer Menge Geld gebaut worden war und dass man eine Menge Geld brauchte, um es zu unterhalten und zu pflegen. Isabell hatte einen Blick dafür. Ich dachte an Roberts Worte. Jung, das traf zu. Aber naiv oder gar hilflos war sie vermutlich nie gewesen. Robert war ängstlich und besorgt, als er uns einander vorstellte. Er bettelte mich förmlich mit Blicken an, sie zu mögen. Isabell schüttelte meine Hand, als sei es selbstverständlich, dass man zur Begrüßung die Linke gereicht bekommt. Sie schrak nicht eine Sekunde lang vor meinem Aussehen zurück. Daraus schloss ich, dass Robert sie gründlich vorbereitet hatte. Es gehörte trotzdem noch eine große Portion Selbstbeherrschung und Verstellungskunst dazu. Nicht einmal Olaf Wächter, der nun gewiss an meinen Anblick gewöhnt war, schaffte
Weitere Kostenlose Bücher