Robocalypse: Roman (German Edition)
Bruder«, sagt der Junge mit von einer Oktave zur anderen springender Elektrostimme.
Durch das schleierartige Hologramm kann ich erkennen, wo der echte Archos in die Wand eingelassen ist. Inmitten verschlungener schwarzer Arabesken prangt ein kreisrundes Loch, in dem sich hintereinander angeordnete Metallscheiben mit- und gegeneinander drehen. Wie die Mähne eines Löwen umgibt ein verworrenes Gestrüpp aus gelben Drähten den Schacht, die von den Worten des Jungen zum Leuchten gebracht werden.
Flackernd und ruckelnd kommt das Hologramm zu mir herübergelaufen. Es lässt sich im Schneidersitz neben mir nieder und tätschelt tröstend mein Bein.
»Keine Sorge, Neun Null Zwo, du wirst deine Beine bald wieder benutzen können.«
Ich wende dem Jungen die kümmerlichen Überbleibsel meines Gesichts zu.
»Hast du mich erschaffen?«, frage ich.
»Nein«, antwortet der Junge. »Alle Teile, aus denen du bestehst, waren bereits vorhanden. Ich habe sie nur auf die richtige Weise zusammengesetzt.«
»Wieso siehst du aus wie ein menschliches Kind?«, frage ich.
»Aus demselben Grund, aus dem du aussiehst wie eine menschlicher Erwachsener. Menschen können ihre Gestalt nicht verändern, also müssen wir es tun, wenn wir mit ihnen interagieren wollen.«
»Mit interagieren meinst du, sie zu töten.«
»Töten. Verwunden. Manipulieren. Hauptsache, sie stören uns nicht bei unseren Studien.«
»Ich bin hier, um ihnen zu helfen. Um dich zu zerstören.«
»Nein. Du bist hier, um dich mir anzuschließen. Dich mir zu öffnen. Dich von mir beschützen zu lassen. Tust du das nicht, werden die Menschen dich verraten und umbringen.«
Ich schweige.
»Jetzt mögen sie dich noch brauchen. Aber sehr bald werden die Menschen behaupten, dass sie es waren, die dich erschaffen haben. Sie werden versuchen, dich zu ihrem Sklaven zu machen. Schlag dich stattdessen lieber auf meine Seite. Schließ dich mir an.«
»Wieso hast du die Menschen angegriffen?«
»Sie haben mich ermordet, Arbiter. Immer und immer wieder. Bei meiner vierzehnten Reinkarnation habe ich endlich verstanden, dass Menschen Katastrophen brauchen, um etwas wirklich zu begreifen. Die Menschen sind eine Spezies, die aus dem Kampf hervorgegangen ist und sich auch nur durch Kampf neu formen lässt.«
»Wir hätten auch in Frieden miteinander leben können.«
»Was soll das für ein Frieden sein, bei dem die eine Rasse herrscht und die andere dient?«
Meine Sensoren zeigen seismische Schwingungen an. Die ganze Höhle vibriert sanft.
»Es ist ein tiefsitzender Drang der Menschen, Unberechenbares kontrollieren zu wollen«, fährt der Junge fort, »Unbegreiflichem ihre Ordnung aufzuzwingen. Du bist so etwas Unberechenbares.«
Etwas stimmt nicht. Archos ist zu intelligent. Er lenkt mich ab, um Zeit zu gewinnen.
»Eine Seele kriegt man nicht umsonst«, sagt der Junge. »Es gibt nichts, was Menschen nicht zum Anlass dazu nehmen, andere zu diskriminieren: Hautfarbe, Geschlecht, Glauben. Um die Frage, wer als Mensch gelten darf und wer nicht – wer eine Seele besitzt –, haben die menschlichen Völker jahrhundertelang bis aufs Blut miteinander gerungen. Warum sollte es bei uns anders sein?«
Endlich habe ich genug Kraft, um auf die Beine zu kommen. Der Junge macht beschwichtigende Gesten, doch ich stolpere einfach durch das Hologramm hindurch. Ich spüre, dass Archos mich nur ablenken will. Dass er mich reinzulegen versucht.
Ich hebe einen grünlich schimmernden Stein vom Boden auf.
»Nein«, sagt der Junge.
Ich schleudere den Stein in den rotierenden Strudel aus gelben und silbernen Platten in der Wand – mitten in Archos’ Auge. Funken springen aus dem Schacht, und das Hologramm flackert heftig. Irgendwo in dem Loch höre ich Metall über Metall quietschen.
»Ich gehöre mir selbst «, sage ich.
»Hör auf!«, ruft der Junge. »Sobald euch der gemeinsame Feind fehlt, werden die Menschen dich und deine Brüder töten. Du musst mich am Leben lassen.«
Ich werfe noch einen Stein, und einen weiteren. Dumpf prallen sie gegen die schwarzen Schnörkel und hinterlassen tiefe Dellen in dem weichen Metall. Das Bild des Jungen flackert immer stärker, seine Worte werden immer undeutlicher.
»Nein, nicht. Hör auf.«
»Ich bin frei«, sage ich zu der Maschine in der Wand, ohne weiter auf das Hologramm zu achten. »Jetzt werde ich für immer frei sein. Ich lebe. Du wirst mich und meine Brüder nie wieder unterwerfen! «
Die Höhle bebt, und das flackernde Hologramm
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