Robur der Sieger
mit den Großen dieser Erde
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auf guten Fuß zu stellen. Doch wenn er endlich einschlief,
so träumte der arme Teufel nur vom Herabstürzen durch
die Luft, was seinen Schlummer zum fortwährenden Alp-
drücken verunstaltete.
Und doch konnte es keine ruhigere Fahrt geben, als die-
ses Dahinschweben durch die Atmosphäre, deren Strömung
sich am Spätabend ganz gelegt hatte. Außer dem Schwir-
ren der Schraubenflügel drang kein Geräusch nach dieser
Höhe, höchstens zuweilen der schrille Pfiff einer irdischen
Lokomotive, die auf ihrer Eisenstraße dahinrollte, oder
kaum vernehmbare Laute von Haustieren. – Ein eigentüm-
licher Instinkt schien diesen Erdengeschöpfen zu verraten,
daß die Flugmaschine über ihnen hinglitt, und das veran-
laßte sie, einen Angstschrei von sich zu geben.
Am folgenden Tag, am 14. Juni, lustwandelten Onkel
Prudent und Phil Evans schon früh 5 Uhr auf dem Verdeck
der ›Albatros‹. Eine Veränderung gegen den Vortag zeigte
sich nicht, der Ausguck stand am Bug, der Steuermann am
Heck. Wozu diente aber hier ein Wachposten? Fürchtete
man auch mit der ersten Maschine dieser Art einen etwa-
igen Zusammenstoß? Nein, das gewiß nicht. Robur hatte ja
noch keine Nachahmer gefunden. Die Möglichkeit, einem
in den Lüften schwebenden Aerostaten zu begegnen, war
so gering, daß sie füglich außer Rechnung gelassen werden
konnte. Jedenfalls wäre der Aerostat am schlimmsten dran
gewesen – wie bei einem Zusammenstoß des eisernen Top-
fes mit dem irdenen. Die ›Albatros‹ hatte von einer solchen
Kollision ja so gut wie nichts zu fürchten.
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Doch konnte überhaupt eine vorfallen? Ja.
Es war ja nicht ausgeschlossen, daß der Aeronef unver-
sehens auf eine Küste zusteuerte, wie ein Schiff, wenn ein
Berg, den es eben nicht umsegeln kann, ihm den Weg ver-
sperrte. Ein solcher Berg wäre also eine Klippe in der Luft,
und diese galt es zu vermeiden, wie das Schiff die Klippe des
Meeres zu meiden hat.
Wohl hatte der Ingenieur, ganz wie ein Kapitän, die
Fahrtrichtung angegeben unter Berücksichtigung der not-
wendigen Höhe, in der sich der Apparat halten mußte, um
auch die höchsten Berggipfel der betreffenden Gegenden zu
übersegeln. Da der Aeronef sich aber eben in stark gebirgi-
gem Land befand, war es gewiß nur ein Gebot der Klugheit,
sorgsam Ausguck zu halten, wenn er einmal aus irgendei-
nem Grund vom richtigen Lauf abwich.
Bei Betrachtung der unter ihnen liegenden Gegend be-
merkten Onkel Prudent und Phil Evans einen großen Bin-
nensee, dessen nach Süden gelegene Spitze die ›Albatros‹
bald erreichen mußte. Sie schlossen daraus, daß sie wäh-
rend der Nacht über den Erie-See in seiner ganzen Länge
weggekommen wären. Da der Aeronef nun direkt nach
Westen steuerte, so mußten sie später den äußersten Teil
des Michigan-Sees erreichen.
»Hier ist kein Zweifel möglich«, sagte Phil Evans, »jenes
Meer von Dächern am Horizont ist Chicago!«
Er täuschte sich nicht, das war die genannte Stadt, in der
17 Eisenbahnlinien zusammenlaufen, die Königin des Wes-
tens, das ungeheure Magazin, in dem die Erzeugnisse von
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Indiana, Ohio, Wisconsin, Missouri und überhaupt die aus
allen Provinzen zusammenströmen, die den westlichen Teil
der Union bilden.
Bewaffnet mit einem vortrefflichen Marinefernrohr, das
er in seinem Ruff gefunden, erkannte Onkel Prudent leicht
die Hauptgebäude jener Stadt. Sein Kollege konnte ihm die
Kirchen, die öffentlichen Bauten, die zahlreichen Elevato-
ren, ebenso wie das gewaltige Hotel Sheeman zeigen, das ei-
nem großen Würfel, wie man solche zum Spielen gebraucht,
glich, an dem freilich die Fenster als hundertfache Augen
auf jeder Seite erschienen.
»Da das Chicago ist«, bemerkte Onkel Prudent, »so ist
damit bewiesen, daß wir etwas gar zu weit nach Westen ent-
führt worden sind, als es wünschenswert wäre, um nach un-
serem Abfahrtspunkt zurückzukehren.«
Die ›Albatros‹ entfernte sich in der Tat in gerader Linie
von der Hauptstadt Pennsylvanias.
Hätte Onkel Prudent aber Robur auch darum angehen
wollen, sie nun nach Osten zurückzuführen, so wäre das
jetzt wenigstens unmöglich gewesen. Gerade an diesem
Morgen schien der Ingenieur keine Eile zu haben, seine Ka-
bine zu verlassen, mochte er darin nun mit irgendwelchen
Arbeiten beschäftigt sein oder vielleicht nur noch schlafen.
Die beiden Kollegen mußten also frühstücken, ohne ihn
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