Robur der Sieger
sahen sich also genötigt,
einen günstigeren Augenblick abzuwarten. Da sollte sich ih-
nen, wie wir sehen werden, bald eine besonders geeignete
Gelegenheit bieten.
Gegen 10 Uhr abends erreichte die ›Albatros‹ die Küste
Frankreichs, nahezu in der Höhe von Dunkerque. Die Nacht
war ziemlich dunkel. Einen Augenblick konnte man den
Leuchtturm von Gris-Nez seine elektrischen Lichtstrahlen
mit denen von Dover kreuzen sehen, die also den Kanal in
seiner ganzen Breite erhellten. Dann steuerte die ›Albatros‹
über Frankreich hin und hielt sich dabei in einer mittleren
Höhe von etwa 1.000 Meter.
Ihre Geschwindigkeit hatte sich freilich nicht geändert.
Wie eine Bombe flog sie über Städte, Schlösser und Dör-
fer hinweg, die so zahlreich in den fruchtbaren Provinzen
des nördlichen Frankreichs zerstreut liegen. Es waren das
unter dem Meridian von Paris nach Dunkerque, Doullons,
Amiens, Creil, St. Denis ... Immer hielt sie dabei eine gerade
Linie ein. So gelangte sie gegen Mitternacht über die »Stadt
des Lichts«, die diesen Namen wenigstens verdient, wenn
ihre Einwohner schlafen oder doch schlafen sollten.
Welch sonderbare Laune veranlaßte nun den Ingenieur,
direkt über der Stadt Paris einmal anzuhalten? Niemand
weiß es. Jedenfalls senkte sich hier die ›Albatros‹ so weit,
daß sie nur wenige hundert Fuß darüber schwebte. Robur
trat aus seiner Kabine hervor und auch die ganze Mann-
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schaft erschien, um lustwandelnd einmal frische Luft zu
schöpfen, auf dem Verdeck.
Onkel Prudent und Phil Evans achteten gut darauf, die
sich jetzt bietende ausgezeichnete Gelegenheit nicht vorü-
bergehen zu lassen. Beide suchten sich, sobald sie aus ihrem
Ruff getreten waren, von den anderen entfernt zu halten,
um den rechten Augenblick zur Ausführung ihres Vorha-
bens auswählen zu können. Auf keinen Fall sollten die an-
deren etwas davon merken.
Einem gigantischen Käfer ähnlich zog die ›Albatros‹ so
langsam über die Stadt hin. Sie überschritt die Linie der
Boulevards, die durch Edisonsche Lampen in hellem Tages-
licht lagen. Das Geräusch der Wagen, die noch durch die
Straßen jagten, und das Rollen der Züge auf den vielen, in
Paris zusammentreffenden Bahnlinien drang bis zu ihr hi-
nauf.
Dann glitt sie in der Höhe der höchsten Bauwerke hin,
als hätte sie die Kugel vom Pantheon oder das Kreuz vom
Invalidendom abstreifen wollen. Sie steuerte zwischen den
beiden Minaretts des Trocadero hindurch nach dem eiser-
nen Turm des Marsfelds, dessen ungeheurer Reflektor die
ganze Hauptstadt mit elektrischem Licht überströmte.
Diese Luftpromenade, dieses Flanieren in der Nacht,
währte etwa eine Stunde. Es glich einer Station in den Lüf-
ten vor Fortsetzung der endlosen Reise.
Der Ingenieur Robur wollte dabei den Parisern offen-
bar den Anblick eines Meteors bereiten, das ihre Astrono-
men noch niemals gesehen oder nur geahnt hatten. Die Si-
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gnallichter der ›Albatros‹ wurden in Funktion gesetzt. Zwei
glänzende Strahlenbündel ergossen sich über die Plätze, die
Häuservierecke, Gärten und die 60.000 Häuser der Stadt,
indem sie ungeheure Lichtmassen von einem Horizont zum
anderen schweifen ließen.
Gewiß – diesmal war die ›Albatros‹ gesehen worden, und
nicht nur gesehen, sondern auch gehört worden, denn Tom
Turner hatte die Trompete hervorgeholt und eine schmet-
ternde Fanfare über die Stadt hin ertönen lassen. In die-
sem Augenblick beugte sich Onkel Prudent ein wenig über
die Reeling, öffnete die Hand und ließ die Dose fallen. Fast
gleichzeitig erhob sich die ›Albatros‹ wieder sehr schnell.
Da schallte durch die Höhe des Pariser Himmels ein viel-
tausendfältiges Hurra aus der Menge, das sich über die Bou-
levards fortpflanzte – ein Hurra der Verwunderung über
den unvorhergesehenen, phantastischen Meteor.
Plötzlich erloschen die Lichtquellen des Aeronefs und
rund um ihn wurde es wieder dunkel und still; darauf nahm
er seine Fahrt mit der Geschwindigkeit von 200 Kilometer
in der Stunde wieder auf.
Das war alles gewesen, was seine Insassen von der
Hauptstadt Frankreichs hatten sehen sollen.
Um 4 Uhr morgens hatte die ›Albatros‹ das ganze Land
schon überflogen. Um keine Zeit mit der Überschreitung
der Pyrenäen oder der Alpen zu verlieren, glitt sie jetzt
an der Oberfläche der Provence bis zur Spitze des Kap
d’Antibes hin.
Um 9 Uhr blieben die auf der Terrasse des St.
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