Römischer Lorbeer
den
Fall dann erneut zu verhandeln. In der Zwischenzeit, so entschied
er, würde das Mädchen in der Obhut von Marcus verbleiben.
Verginia schrie verzweifelt! Die Menge protestierte lautstark, und
die Kinderfrau des Mädchens fiel auf der Stelle in Ohnmacht,
doch Appius Claudius wies daraufhin, daß man Marcus laut
Gesetz nicht zwingen könne, das Mädchen irgend jemand
anderem als ihrem Vater auszuhändigen, und daß sie in
dessen Abwesenheit in der Obhut von Marcus bleiben müsse.
Verginia würde also die ganze Nacht in Marcus’
Händen - und Appius Claudius’ Gewalt - bleiben. Man kann
sich bildlich vorstellen, wie der Fuchs sich die Lippen geleckt und
unter seiner Toga an sich herumgespielt hat.
Die Entscheidung war
grotesk, und es gab ein ziemliches Gemurre, aber niemand wagte es,
sich offen dagegen auszusprechen. So untertänig waren die
Menschen unter der Herrschaft der Dezemvirn. Marcus wollte sogleich
den Gerichtsplatz mit der weinenden Verginia im Schlepptau
verlassen.
In diesem Moment traf
Verginias junger Verlobter, der aufstrebende Politiker, am
Schauplatz des Geschehens ein und hielt eine empörte Rede
darüber, daß Appius Claudius das Gesetz benutze, um
jeden in Rom zum Sklaven zu machen; zu dem alleinigen Zweck, seine
eigene Lust zu befriedigen. Eher würde er sterben, gelobte der
junge Mann, als zuzulassen, daß seine Verlobte eine Nacht
außerhalb des väterlichen Hauses verbrachte. Das
Mädchen sei Jungfrau, und als Jungfrau wolle er sie auch
heiraten.
Es gelang ihm, die
Menge aufzustacheln. Appius Claudius mußte bewaffnete
Liktoren zur Hilfe rufen, um die Ordnung wiederherzustellen, und er
drohte, den jungen Redner wegen Anstiftung zum Aufruhr verhaften zu
lassen. Um zu verhindern, daß die Situation außer
Kontrolle geriet, willigte Appius Claudius ein, das Mädchen
für die Nacht mit ihrem Onkel nach Hause gehen zu lassen,
nachdem jener eine große Summe in Silber als Pfand hinterlegt
hatte, die sicherstellen sollte, daß Verginia am
nächsten Tag zu der Anhörung erschien.
Als der Morgen
dämmerte, erwachte die Stadt in fiebriger Erregung. Verginius,
der seinen militärischen Auftrag abgebrochen hatte, erschien,
die Hand seiner Tochter umklammernd, auf dem Forum - er in Schwarz,
sie in Lumpen gekleidet, gefolgt von sämtlichen weiblichen
Verwandten, die ein lautes Wehklagen anstimmten. Es gab einen
Prozeß oder doch eine Art Prozeß, bei dem beide Seiten
dem Vorsitzenden Richter Claudius Appius ihre Argumente vortrugen.
Beweise und gesunder Menschenverstand allerdings zählten
nichts. Sobald die Plädoyers gehalten waren, verkündete
Appius Claudius, daß Verginia die Sklavin des Marcus und
nicht die Tochter des Verginius sei. Marcus stünde es frei,
seinen Besitz einzufordern.
Die Zuschauer waren
wie erstarrt. Niemand sagte ein Wort. Marcus begann sich einen Weg
durch die Menge zu Verginia zu bahnen. Die Frauen um sie herum
brachen in Tränen aus. Verginius drohte Marcus mit der Faust
und rief: ›Ich habe meine Tochter für das Brautbett
gezeugt, nicht für dein Bordell! Kein Mann, der ein Schwert
besitzt, wird solchen Frevel dulden!«
Doch darauf war Appius
Claudius vorbereitet. Er habe alarmierende Berichte über einen
geplanten Aufstand gegen die Dezemvirn gehört, behauptete er,
so daß er einen Trupp bewaffneter Liktoren zur Wahrung der
Ordnung bereitgestellt habe. Er gab ihnen den Befehl, vorzutreten,
ihre Schwerter zu zücken und den Platz zu räumen, damit
Marcus seinen Besitz in Empfang nehmen konnte. Jeder, der sich
diesem Akt der Justiz widersetze, würde wegen Störung der
öffentlichen Ordnung an Ort und Stelle getötet. Marcus
schritt durch den Kordon der Schwerter und packte
Verginia.
Verginius schien
schließlich doch der Mut zu verlassen. Mit Tränen in den
Augen rief er Appius Claudius zu: »Vielleicht bin ich in all
den Jahren tatsächlich einem schrecklichen Irrtum unterlegen,
und das Mädchen ist gar nicht meine Tochter. Laß mich
das Mädchen und ihre Amme für einen Moment beiseite
nehmen und vertraulich mit ihnen sprechen. Dann werde ich sie ohne
Gegenwehr aufgeben.‹ Appius gewährte ihm diese Bitte,
obwohl man sich rückblickend fragen muß, warum.
Vielleicht wollte er den Moment der eigentlichen Inbesitznahme des
Mädchens genießen, wollte Zusehen, wie sie Marcus in die
Hände fiel, und hatte nichts dagegen, die Tortur ein wenig in
die Länge zu ziehen.
Verginius führte
seine Tochter in eine kleine Nebenstraße zum Forum, rannte
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