Roemisches Roulette
er sagen:
Das ist nicht gut.
Ich nahm die Zeitung in die Hand und las die ersten zwei Absätze.
Chicago, IL – Eine Frau aus River Forest, Illinois, stürzte aus einer Wohnung im 1200sten Block des Lake Shore Drives knapp 100 Meter in den Tod. Katherine Kernaghan, 35, erlag ihren Verletzungen, nachdem sie aus dem zweiundzwanzigsten Stockwerk vom Balkon einer Freundin gefallen war. Laut Polizeiangaben war es dort zu einem Gerangel gekommen. Kernaghan wurde im Chicago General Hospital für tot erklärt.
Kernaghans Freunde, das Ehepaar Nicholas und Rachel Blakely, wurden nach der polizeilichen Vernehmung wieder auf freien Fuß gesetzt. Die Behörden sprechen im Fall Kernaghan nicht von Mord. Dennoch steht zur Klärung der Todesumstände eine Untersuchung an.
“Was machen wir denn jetzt?”, fragte Nick.
“Wie meinst du das?”
Das Telefon klingelte und ich ging ran. Teils hoffte ich, es wäre Kits Mom, doch zugleich fürchtete ich mich vor dem Gespräch mit ihr. “Hallo?”
“Hallo Rachel, hier spricht Joanne Weatherby.”
“Hi Joanne.” Ich sah zu Nick, der mit den Lippen ein
Gib sie mir
formte.
“Vielen Dank für Ihre Hilfe”, sagte ich. “Wir sind sehr froh über Tom Seversons Beistand.”
“Nichts zu danken”, säuselte Joanne. “Zum Glück hat Nick mich gleich informiert. Das ist ja wirklich eine schreckliche Geschichte.”
“Ja, das ist es. Joanne, Nick möchte Sie gern sprechen.”
Ich gab Nick den Hörer. Er setzte sich auf die Bettkante, bedankte sich bei Joanne und schwärmte von Tom Seversons souveräner Hilfe.
Als er auflegte, hatte er schon wieder etwas mehr Farbe im Gesicht. “Sie war sehr verständnisvoll.”
“Was spielt es schon für eine Rolle, wie es Joanne geht? Kit ist tot.” Ich sprach mit monotoner Stimme, aber Nick sah mich so überrascht an, als hätte ich ihn geschlagen.
Er setzte zum Sprechen an, doch in dem Moment klingelte das Telefon erneut. Er hob ab. “Ja, am Apparat. Nein, heute Vormittag kann ich nicht. Meine Frau schon, ja. Ich könnte heute Mittag um zwei kommen.”
Er legte auf. “Das war Tom. Er möchte noch mal getrennt mit uns sprechen. Die Polizei hat wohl noch ein paar Fragen.”
Für das Treffen mit Tom Severson zog ich einen schwarzen, gerade geschnittenen Rock, eine hellgrüne Bluse, schwarze Pumps und eine schwarze Strickjacke an.
Dann rief ich im Büro an, um mich krank zu melden. Normalerweise hinterließ man einfach eine Nachricht bei Mary, der Empfangsdame. Die würde sie dann an Laurence weitergeben. Wir waren schließlich Profis. Wenn jemand – aus welchem Grund auch immer – nicht zur Arbeit kommen konnte, hinterfragte das niemand. Zumindest, solange derjenige sonst vollen Einsatz zeigte. Möglicherweise war mein Engagement in den vergangenen Wochen zu verhalten gewesen. Oder es lag an dem Zeitungsartikel. Jedenfalls leitete Mary mich in die Warteschleife, kaum, dass ich meinen Namen genannt hatte. Dann hatte ich Laurence am Apparat.
“Ich habe es in der Zeitung gelesen, Blakely”, begann er das Gespräch. “Tut mir leid, die Sache mit Ihrer Freundin.”
“Danke. Sie können sich bestimmt vorstellen, dass ich heute unmöglich arbeiten kann.” Ich hatte ein schlechtes Gewissen, weil ich Kits Tod als Entschuldigung für mein Nichterscheinen vorschob, obwohl der eigentliche Grund dafür das Treffen mit meinem Strafverteidiger war.
“Können wir irgendwas für Sie tun?” Für einen kurzen Augenblick schwang Anteilnahme in seiner Stimme mit, was mich fast zum Weinen gebracht hätte.
“Nein. Aber vielen Dank. Ich komme wahrscheinlich erst in ein paar Tagen wieder ins Büro.”
Nachdem ich aufgelegt hatte, versuchte ich es abermals bei Kits Mom. Vor Anspannung war mir übel.
Dieses Mal nahm sie sofort ab. Als hätte sie in der Hoffnung neben dem Telefon gewartet, Kit würde anrufen und ihr mitteilen, sie käme etwas später, wäre aber bald zu Hause. Ein Gespräch, wie ich es zu Highschool-Zeiten tausendmal mitgehört hatte.
“Mrs. Kernaghan”, sagte ich, “hier ist Rachel.”
Sie fing an zu weinen. Zuerst ganz leise; dann immer lauter und klagender. Wie versteinert verharrte ich im Flur. Das kühle Grau unserer ach so modernen Wohnung wirkte plötzlich kalt und teilnahmslos. Jeder Schluchzer von Kits Mom zerschnitt mein Herz wie eine Sense.
Vermutlich waren es nur zwei, drei Minuten gewesen, doch mir kam es vor, als hätte ich Stunden so dagestanden. Dann holte Leslie Kernaghan tief Luft und wurde still. “Es tut
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