Roemisches Roulette
verfolgt. Fast ein Grund, ihr im Nachhinein dankbar zu sein.
“In Ordnung”, erwiderte ich.
“Ich meine, sie sollen sich natürlich mit Freunden treffen – immerhin brauchen Sie in einer Situation wie dieser seelischen Beistand. Aber Rachel: Ich möchte, dass Sie oder Nick mit niemandem über die Ereignisse des vergangenen Abends sprechen. Mit keiner Menschenseele. Gehen Sie am besten davon aus, dass jeder verkabelt ist.”
“Ist das denn möglich? Würde die Polizei so etwas machen?”
Er zuckte die Achseln. “Auch das hängt von den Ermittlungsergebnissen ab. Die Sache kann in ein, zwei Tagen vorbei sein. Sie kann sich aber auch über Monate hinziehen.”
“Monate?”
“Sogar Jahre, falls es ein Gerichtsverfahren gibt. Lassen Sie mich also wiederholen: Es geht um Sie und Nick. Miteinander können Sie über letzte Nacht sprechen, so oft Sie wollen, aber mit niemandem sonst, verstanden?”
Ich nickte. Nur Nick und ich. Das erleichterte mich ein bisschen. Ich hatte mich in den letzten Monaten daran gewöhnt, meine Geheimnisse für mich zu behalten. Nur mit Kit teilte ich meine Sorgen, und die hatte sie prompt gegen mich verwendet. Jetzt blieb mir wenigstens noch Nick.
In den nächsten Tagen benutzte Nick seine Patienten und Operationen als willkommene Ausrede, um sich abzulenken. Er übernahm sogar Patienten, die er sonst geflissentlich mied. Er vertrat jeden Kollegen, der ihn fragte. Er schien zu sagen: Die ehemals engste Freundin meiner Frau ist diese Woche von unserem Balkon gefallen. Ja, man hat uns zu ihrem Tod befragt. Aber, was soll’s – ich muss Dr. Taylors Nasenplastik übernehmen und eine Brustvergrößerung durchführen, die das Leben dieser Sechzehnjährigen grundlegend verändern wird.
Ich fühlte mich schuldig bei diesen Gedanken. Nick liebte seine Arbeit, und mehr als alles andere liebte er plastische Operationen, mit denen er Menschen helfen konnte. Ich durfte ihm nicht vorwerfen, dass er unsere Brötchen verdiente und zudem das tat, was ihn glücklich machte. Für mich hingegen gab es zu Hause nichts weiter zu tun, als auf einen Anruf von Tom Severson zu warten, und ich beneidete Nick darum, dass er durch seine Arbeit beschäftigt war und abgelenkt wurde.
Unfähig ins Büro zu gehen, meldete ich mich weiterhin krank. Aber auch mich anderweitig zu beschäftigen war undenkbar. Die ganze Zeit grübelte ich nur darüber nach, was in Detective Baccos Kopf vorgehen mochte. Arbeitete er gerade an anderen Fällen und schob Kits Tod zur Seite, so wie ich es am Monatsende oft mit dem Papierkram machte? Oder ging er immer wieder die Aufzeichnungen unserer Befragungen durch und suchte nach Ungereimtheiten und unglaubwürdigen Details? Schenkte man der aktuellen Zeitungsausgabe Glauben, war die Untersuchung noch in vollem Gang. Mehr wurde nicht verraten.
Nachdem ich am Tag vor Kits Beisetzung die Nachmittagsstunden damit verbracht hatte, auf dem Sofa zu sitzen und auf den aufgewühlten Michigansee zu starren, wusste ich endlich, was ich tun konnte – meine Fotos kolorieren. Seit unserem Umzug an den Lake Shore Drive hatte ich nicht mehr gemalt. Aber wo sollte ich meine Utensilien aufbauen? Den Kellerraum im Bungalow gab es ja nicht mehr. Ich entschied mich für den Esstisch.
Ich breitete ein großes Laken über der Platte aus, schob alle Stühle zur Seite und stellte Farben und Palette bereit. Dann musste ich mich für ein Foto entscheiden. Ich kolorierte fast immer Landschaften. Mir gefiel es, ein Schwarzweißfoto von einem wogenden Feld zu schießen, um das Gras dann in leuchtendem Gelborange, die Kiefern dahinter knallgrün und den Himmel in einem weichen Graublau zu kolorieren. Es gab unendlich viele Möglichkeiten. Doch als ich den Fotostapel durchsah, sprach mich kein Motiv an.
Ich legte die Bilder beiseite und ging zur Sitzecke in unserem Schlafzimmer. Auf einem Glastisch neben der Chaiselounge lag unser Hochzeitsalbum mit einem Mix aus Farb- und Schwarzweißfotos. Ich blätterte es durch, bis ich das Foto fand, mit dem ich arbeiten wollte – eine Schwarzweißaufnahme von Kit. Es zeigte sie in ihrem Brautjungfernkleid. Das Haar hatte sie kunstvoll hochgesteckt. Sie hielt einen Strauß Gerbera in den Händen und zog für die Kamera ein ironisches, hochnäsig wirkendes Gesicht.
Ich nahm das Bild mit ins Esszimmer und klebte es auf die provisorische Tisch-Staffelei. Dann mischte ich die Farben an – Rostrot für ihre Haare, Weinrot für den Mund, Zartlila für ihr Kleid, Orange für
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