Roemisches Roulette
mir leid, Rachel.”
Noch immer konnte ich mich nicht bewegen. In einer Hand hielt ich das Telefon, in der anderen meine schwarze Tasche. Am liebsten hätte ich sie gegen die Wand geschleudert, hätte geschrien und geweint. Doch Mrs. Kernaghan konnte jetzt keine hysterischen Ausbrüche gebrauchen.
“Nein,
mir
tut es leid”, sagte ich stattdessen.
“Was ist gestern Abend geschehen?”
Was hatte die Polizei ihr erzählt? Hatte man ihr unsere Aussagen gezeigt? “Kit und ich haben uns gestritten.”
“Aber Süße, warum denn? Du warst doch ihre beste Freundin.”
Genau, das
war
ich einmal.
Ich wiederholte die Geschichte, die ich auch der Polizei erzählt hatte. Inzwischen konnte ich beinahe ohne jegliche Gefühlsregung darüber sprechen – wie in Trance. Mit jedem Mal, bei dem ich das Geschehen so schilderte, löschte ich die andere Version etwas mehr aus meinem Gedächtnis, und allmählich verschmolzen die beiden Varianten zu einer einzigen.
“Ich verstehe das nicht”, überlegte Mrs. Kernaghan laut. “Wie konnte sie denn nur über das Geländer fallen?”
Ich fuhr fort. Ich sprach schnell. Ein Wort drängte sich an das vorige, denn ich befürchtete, nicht zu Ende erzählen zu können, wenn ich auch nur eine Pause machte.
Als ich endete, seufzte Mrs. Kernaghan. Sie schluchzte kurz, fing sich jedoch wieder. “Kit war mein Ein und Alles.”
“Ich weiß.”
“Sie hat für mich gesorgt.”
“Ich weiß”, wiederholte ich. Sollte ich ihr anbieten, dass wir von nun an für ihre Krebsbehandlung aufkämen? Doch dann dachte ich daran, wie das auf die Polizei wirken müsste, und hasste mich sogleich für diesen Gedanken.
“Ich will nicht, dass Totenwache gehalten wird”, meinte Mrs. Kernaghan.
Fast hätte ich meine Tasche auf den Parkettfußboden fallen gelassen. “Wie bitte?” Ich hatte noch gar nicht über die Totenwache für Kit nachgedacht. Über ihre Bestattung, ihr Begräbnis.
Dieser Gedanke überstieg meine Kräfte. Ich sank zu Boden. Meine Schluchzer ähnelten auf seltsame Weise denen von Mrs. Kernaghan, die noch vor wenigen Momenten durch den Hörer gedrungen waren.
“Meine Süße”, beruhigte sie mich, und ich fühlte mich sogleich noch schuldiger. “Alles wird gut. Ich wollte nur sagen, dass es einen Trauergottesdienst am offenen Grab geben wird. Mehr kann ich mir nicht leisten.”
“Wir könnten etwas dazugeben, wenn Sie möchten.”
“Das ist lieb von dir. Aber Kit hätte es schlicht und einfach gewollt.”
Die Worte ließen meine Tränen versiegen.
Kit hätte gewollt …
Wer wusste schon, was Kit gewollt hatte? Was hatte sie von ihrem Leben gewollt? Was hatte sie gewollt, als sie gestern Abend zu uns gekommen war?
“Wirst du es vorlesen?”, unterbrach Mrs. Kernaghan meine wirren Gedanken.
“Entschuldigung, wie bitte?”
“Ich habe hier ein Gedicht, das Kit geliebt hat. Und dich hat sie auch geliebt. Also, würdest du es beim Gottesdienst vortragen?”
Ich schluckte und kniff die Augen zusammen, um nicht wieder loszuheulen. “Sicher”, brachte ich mühsam hervor.
Tom Severson war Teilhaber der kleinen, aber offensichtlich erfolgreichen Kanzlei Brandt & Severson. Die Büros lagen im siebzehnten Stock eines Hochhauses in der Dearborn Street, nahe dem Daley Center, dem wegen seiner interessanten Architektur bekanntesten Gerichtsgebäudes der Stadt.
Als sich die Fahrstuhltür öffnete, gab sie den Blick auf einen noblen Empfangsbereich frei: Zierleisten aus Mahagoni, burgunderrote Seidentapete und teure Teppiche. Die Empfangsdame führte mich in einen ähnlich eingerichteten Konferenzraum, in dem mich Tabletts mit Erfrischungsgetränken und Gebäck erwarteten.
Als Tom das Zimmer betrat, erhob ich mich. Er trug einen grauen Anzug und eine grüngestreifte Krawatte.
“Guten Morgen, Rachel”, begrüßte er mich herzlich. “Kann ich Ihnen irgendetwas anbieten? Kaffee?”
Ich lächelte. “Nein, aber vielen Dank. Ihr Büro und das Polizeirevier unterscheiden sich wirklich wie Tag und Nacht.”
Er lachte. “Das machen die mit Absicht. Sie setzen einen auf eine harte Bank und positionieren ihren Stuhl direkt gegenüber, damit man gezwungen ist sie anzusehen.”
Ich nickte. Das alles wäre hochinteressant gewesen, womöglich sogar unterhaltsam, wäre es dabei nicht um mich gegangen.
Mit einer Handbewegung bot er mir einen Platz an. “Irgendwelche Fragen?”
“Nick hat gesagt, die wollen uns nun noch einmal vernehmen?”
Tom schenkte sich Kaffee in einen goldenen
Weitere Kostenlose Bücher