Roen Orm 3: Kinder des Zwielichts (German Edition)
leicht, großzügig zu seinen Feinden zu sein. Aber jetzt?
Niyam lächelte traurig, er schien seine Gedankengänge genau zu verstehen.
„Eiven, du bist nicht ausgestoßen, und die Weide hat nicht so viel Lebenskraft in dich gesteckt, damit du Selbstmord begehen kannst, verstanden? Hör mir zu, Junge. Ich war viele Jahre fort gewesen, fern von der Sippe. Roya war die Frau meines besten Freundes, ich konnte nicht ertragen, was ihr geschehen war. Ich konnte nicht mit ansehen, wie sie langsam zerbrach, wie Fanven um sie kämpfte. Eine Weile lang bin ich ziellos herumgeirrt, und wie es so geht, irgendwann landete ich in Roen Orm. Und hier wusste ich, was ich tun konnte, um meinem Leben einen Sinn zu geben: Ich begann, nach dem verlorenen Gedankenstein unseres Volkes zu suchen. Mein Dasein fern der Sippe war das eines Ausgestoßenen, daran gibt es keinen Zweifel. Alle Loy, die mich sahen, wollten mich töten, sie begriffen nicht, warum ich mich wehrte und vor ihnen floh. Die Menschen in Roen Orm fürchteten mich, wegen meiner Flügel und meiner schwarzen Haut, dennoch, sie akzeptierten mich. Ich konnte ein Geschäft führen, um nicht als Bettler leben zu müssen, und in Ruhe suchen, was wir Loy verloren haben. Doch ich war einsam, zerrissen zwischen dem Wunsch, den Stein zu finden und endlich nach Hause zurückzukehren. Die Menschen verabscheuten mein für sie hässliches Äußeres, meine Fremdartigkeit, sie duldeten mich nur. Ich war allein ... Bis ich eines Tages über ein kleines Mädchen stolperte. Ah, sie war ein Mensch, wenn auch nicht gänzlich, eine junge Hexe, um genau zu sein. Inani war ihr Name. Sie war noch nie in einer Stadt gewesen, hatte noch nie einen Loy gesehen. Nach dem ersten Erschrecken sagte sie zu mir, ich sei wie ihre Seelenvertraute, ein Pantherweibchen – das sind große schwarze Raubkatzen. Sie nannte mich wild und wunderschön . Sie mochte mich ganz
einfach, ihr war egal, wie meine Hülle aussah! Wir sind gute Freunde geworden.
Was ich damit sagen möchte: Es gibt sehr viel, was dich von den Loy trennt. Zu viel vielleicht. Aber es gibt dort draußen mehr als unsere Sippe. Es gibt Wesen, die dich akzeptieren werden, womöglich sogar mehr als mich, weil deine Haut eben nicht ganz so dunkel ist. Es gibt Wesen, die sich nicht für deine Hülle interessieren und nichts davon wissen wollen, wie du gezeugt wurdest. Und es gibt eine mögliche Aufgabe für dich, wenn du sie haben willst. Geh nach Roen Orm. Suche den Gedankenstein, mach dort weiter, wo ich aufhörte. Wer weiß, eventuell triffst du Inani in dieser Stadt, sie kann dir helfen und zeigen, wo ich gelebt und gearbeitet habe. Und irgendwann, wenn du es willst, kehrst du zu uns zurück. Entweder als Held, mit dem Gedankenstein in der Hand, oder einfach nur als das, was du bist: Ein Mitglied unserer Sippe. Du bist nicht ausgestoßen, vergiss das nicht. Ich werde Laremo sagen, dass du nach Roen Orm gegangen bist, falls du es möchtest. Alle werden es akzeptieren.“
„Sie werden froh sein“, sagte Eiven nach einem sehr langen Augenblick des Schweigens. Was Niyam da sagte, klang verlockend. Hoffnungsvoll. Hoffnung war tückisch …
„Ja. Einige werden froh sein. Genauso viele werden dich vermissen. Du ahnst nicht, mit welcher Sorge nach dir gesucht wurde in den letzten Tagen!“
„Ich bin ein Teil der Sippe, sie müssen sich um mich sorgen, ob sie wollen oder nicht!“ Eiven schnaubte verbittert.
„Das ist nicht wahr! Ja, sie können dich nicht so annehmen wie jeden anderen. Selbst einen völlig Fremden hätten sie leichter in ihrer Mitte aufgenommen als dich. Aber es sind nur wenige, die dich für etwas hassen, was du niemals verschuldet hast. Und glaube nicht, dass deine Mutter dich hasst. Roya hätte dich töten können, es war weder Demut noch Schwäche, dass sie es nicht getan hat. Roya wird dich sehr vermissen. Und ich ebenfalls, Junge, obwohl ich dich erst seit so kurzer Zeit kenne.“
Als Eiven weiterhin schwieg, packte Niyam ihn plötzlich am Arm.
„Nun komm, entscheide dich! Soll ich dich töten? Dann hast du es hinter dir. Oder bist du stark? Ein Kämpfer? Bist du stark genug, das Leben eines Ausgestoßenen zu führen, obwohl du Teil einer Sippe bist? Bist du willig, es Misham und seiner Horde zu zeigen, oder willst du, dass sie am Ende doch gesiegt
haben? Kannst du dir überhaupt vorstellen, was es für sie bedeuten wird zu wissen, du könntest jederzeit nach Hause zurückkehren und sie anklagen? Glaubst du, auch nur einer von
Weitere Kostenlose Bücher