Röslein rot
kleinen interessanten Job, nicht unbedingt, um die große Kohle zu machen, sondern aus Liebhaberei - das könnte ich mir gut vorstellen.«
Hat die eine Ahnung, dachte ich. Vermutlich verdient ihr Mann einen Haufen Geld, und sie hat es nie nötig gehabt, sich nach einem Nebenerwerb umzusehen. Und jetzt bildet sie sich ein, interessante Jobs zur Selbstverwirklichung würden ihr nur so nachgeschmissen...
Man aß weiter, man trank reichlich, ich lauschte verbissen rechts und links, ohne nennenswerte Gesprächsanteile beizusteuern. Lucie mußte mehrmals nach der kleinen Eva schauen, die leichtes Fieber hatte. Die Innenarchitektin Mia, die einen Laden für Schickimicki-Möbel zu besitzen schien, machte sich für geschmiedete Eisenstühle stark, deren Sitzflächen aus rohen Ästen bestanden. »Ein einmaliges Gefühl, direkt auf Rinde zu thronen.«
Reinhard staunte. Mia erzählte mit viel Witz, wie sie ihrer Kundschaft noch andere Unbequemlichkeiten andrehte.
Birgit sprach auf den neben mir sitzenden Gottfried ein und erbat mit gedämpfter Stimme Informationen über andere Chormitglieder, über das Programm zurückliegender Konzerte und über das Liebesleben des Kassenwarts. »Die Lieder aus dem blauen Buch machen mir keine großen Probleme«, behauptete sie, »aber ich zittere vor dem Herbstkonzert! Vielleicht brauche ich dann ein paar Nachhilfestunden von dir.«
Bevor wir anderen wußten, wie uns geschah, sangen die beiden ein anmutiges Liedlein auf französisch im Duett: »Belle, qui tiens ma vie«. Artig wurde geklatscht, was sie leider zu einer Fortsetzung animierte. Schließlich artete das Programm in ein regelrechtes Wunschkonzert aus. Silvia verlangte: »Wie schön leuchtet der Morgenstern« und sang dabei kräftig mit, es folgten diverse Kanons, an denen sich fast alle beteiligten. Selbst der Kater Orfeo saß lauschend im Gebüsch, wo ihn seine phosphoreszierenden Augen verrieten. Lucies mahnender Appell, daß wir im Freien tafelten und die Nachbarn vielleicht schlafen wollten, wurde übertönt. Schließlich meldete sich Reinhard mit dem Vorschlag, einen Evergreen aus seiner Studentenzeit zu singen: »Memories of Heidelberg«.
Die geschulten Chorsänger mußten passen; geeicht auf Renaissance-Madrigale, war ihnen ein derart triviales Stück fremd. »Wie geht'n das?« fragte Gottfried.
Reinhard stand auf - mein Gott, im Gegensatz zu mir vertrug er nur wenig Alkohol - und sang solo mit seiner unbeschreiblichen Fistelstimme, noch dazu ganz falsch und in ziemlich schwäbischem Englisch. Alle schienen seine Darbietung als peinlich zu empfinden, mir platzte schier der Kragen. Und aus diesem Impuls heraus fing ich, die ich mich als einzige die ganze Zeit ziemlich still verhalten hatte, als erste an zu pfeifen. Udo konnte es sogar auf zwei Fingern, Silvia schrie »Buh«, Mia stieß gellende Unmutstöne aus, Birgit hielt sich die Ohren zu. Nur das Gastgeberpaar versuchte durch sachte Einsprüche dem Pfeifkonzert Einhalt zu gebieten.
Reinhard ging hinein. Erst nach einiger Zeit fiel uns auf, daß er sich nicht auf die Toilette, sondern nach Hause geflüchtet hatte.
Lucie war die Sache äußerst peinlich. »Meinst du, er ist beleidigt?« fragte sie mich.
»Das ist klar wie dicke Tinte«, sagte ich, »aber du kannst nichts dafür. Geschieht ihm recht, wenn er sich so aufspielt.«
Als mich Gottfried eine knappe Stunde später heimbrachte, weil mein Mann unser Auto mitgenommen hatte, lag Reinhard im Bett und schnarchte.
Am folgenden Morgen fiel kein Wort mehr über unsere unrühmlichen Rollen in Lucies Boulevardstück. Kaum war Reinhard aus dem Haus und ich widmete mich endlich wieder meiner geliebten Hinterglasmalerei, da klingelte es.
Vor der Haustür stand Birgit. »Mein Mann ist nicht zu Hause«, sagte ich unfreundlich, ließ sie herein und bot ihr keinen Kaffee an; der Küchentisch war mit Pinseln, Farben und einem schmierigen Backblech besetzt, ich steckte in meinem vollgekleckerten Malkittel. Birgit trug diesmal einen seidenen Blazer und sportliche Hosen, sicher oberste Preisklasse. Ich roch zartes Maiglöckchenparfum. Was wollte sie?
Ganz unbefangen bat sie mich, Reinhard im Büro anzurufen und ihm ihre Anwesenheit mitzuteilen, denn sie habe nicht viel Zeit.
Ich gehorchte.
Er fragte - zu seiner Verteidigung sei es gesagt - im Tonfall leichten Erstaunens: »Was will sie denn?«
Ich wußte es nicht.
Als Reinhard zwanzig Minuten später eintraf, begrüßte sie ihn mit Küßchen und Umarmung, was er sich
Weitere Kostenlose Bücher