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Röslein rot

Röslein rot

Titel: Röslein rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Als ich sie eines Morgens hochnahm, um mit dem Staubtuch darüberzuwischen, entdeckte ich einen kleinen Brandfleck auf dem hölzernen Fensterbrett. Hatten die Kinder gekokelt? Mittags versäumte ich es, sie zu fragen. Aber als ich das Geschirr abräumte, traf mich ein böses Funkeln von der Fensterbank, als wolle mir die Glaskugel etwas sagen; die hochstehende Sonne schien direkt auf das glatte runde Kristall. Mit zusammengekniffenen Augen peilte ich die Kugel an und sah ein hauchdünnes Rauchfähnchen aufsteigen.

Vorsicht Glas

    Briefbeschwerer aus Venedig und Karlsbad waren bereits vor hundert Jahren als Andenken oder Mitbringsel beliebt. Die geheimnisvollen Paperweights aus kunstvoll geschliffenem Glas, die in ihrer Mitte oft eine bunte Blüte oder eine andere Überraschung bergen, liegen angenehm schwer und kühl in der Hand. Das vom Lesen und Schreiben ermattete Auge gleitet beglückt über den kleinen funkelnden Luxus. Für Kinder, die sich an solchen Dingen ebenfalls erfreuen können, gibt es die preiswerten »Schneekugeln«; durch heftiges Schütteln wird eine Landschaft oder Figur von einem Schneegestöber heimgesucht. Als kleines Mädchen besaß ich einen solchen Schatz. Meine Wißbegierde siegte über alle Bedenken: Ich habe meine Kugel bewußt zerschmettert, um mitten im Sommer rieselnde Schneeflocken zu gewinnen. Die Enttäuschung über das wäßrige Seifenpulver war schmerzlich.
    Die gläserne Kugel, die uns Birgit mitgebracht hatte, war ein modischer Artikel und stammte wahrscheinlich aus Mias Laden. War allgemein bekannt, daß solche Kugeln als Brennglas wirken konnten, wenn sie nur das Sonnenlicht im richtigen Winkel brachen? Nicht ungefährlich, dachte ich, und stellte das Kristall auf den Küchentisch, wo kein zündelnder Strahl einfallen konnte. Dort sprang sie aber Reinhard in die Augen, und er nahm sie anderntags mit ins Büro.

    Auf dem Vanitas-Gemälde eines unbekannten Meisters aus der Werkstatt von Pieter Claesz findet sich außer den üblichen Symbolen der Vergänglichkeit auch eine Glaskugel.
    Im trüben, graugrünen Dämmerlicht erscheint vor allem der Totenkopf in der rechten Ecke als drohendes Menetekel: Sieh, o Mensch, was du in Kürze sein wirst - ein nackter Schädel ist das einzige, was von dir bleibt. Als ob der Totenkopf allein nicht ausreichte, gemahnt ein großer Röhrenknochen ans unausweichliche Ende. Ein golden schimmernder Prunkpokal ist umgestürzt, ein Glas geleert, die Gänsefeder hat den Schlußstrich gezogen. Am unteren Bildrand verweisen indes drei unterschiedliche Muscheln, Symbol des Heiligen Grabes, auf die Auferstehung und das ewige Leben. Was aber sagt uns die Glaskugel, die auf olivgrünem Tuch dem Totenschädel gegenüber ruht? Nicht nur der reich verzierte Stiel des Pokals, auch die Doppelflügel eines kleinen Fensters spiegeln sich in ihrer glatten Rundung, bei längerem scharfen Hinsehen erkennt man schließlich eine Staffelei mit einer schemenhaften Figur davor: niemand anderes als der Künstler selbst. In einer Zeit, wo das Signieren mit vollem Namen keineswegs selbstverständlich war (häufig nur ein rätselhaftes Monogramm), erscheint einleuchtend, daß der Schöpfer eines Gemäldes durch einen Fingerzeig auf seine Urheberschaft hinwies. Meine künftigen Bilder werde auch ich mit einer kleinen Heckenrose kennzeichnen.
    Ich nehme an, daß ein Maler des niederländischen Barock alle Mittel einsetzen mußte, um etwas Licht in die dunklen Stuben zu bringen. Die Glaskugel wurde sicher nicht bloß vom Schuster, der ja stets in einem dunklen Kellerloch hockte, sondern auch von anderen Handwerkern verwendet. Als Maler konnte man die vergrößernde Wirkung und die Lichtbündelung mit der ästhetischen Freude an einem vollendet schönen Gegenstand verbinden. Und die Zerbrechlichkeit des Glases war ein zusätzlicher Hinweis auf die zeitliche Begrenztheit allen Seins, auf die Vergänglichkeit von Liebe und Glück.

    In meinem persönlichen Auf und Ab kam endlich wieder das lang erwartete Hoch, das sich jedoch nur als kurzes Zwischenhoch entpuppte. Seit dem Vorfall mit Imke hatten Reinhard und ich nicht mehr miteinander geschlafen, nun rutschte er in einer heißen Nacht unerwartet und stürmisch in meine Betthälfte herüber. Ich kam nicht dazu, lange zu überlegen, ob ich ihm damit eine endgültige Verzeihung gewährte, denn ich empfand bei seiner Überrumpelung starke Erregung.
    Am nächsten Morgen hatte er bereits vor mir die Zeitung aus dem Briefkasten geholt,

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