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Röslein rot

Röslein rot

Titel: Röslein rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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wobei ich feststellte, daß ich ihn mir überhaupt nicht mehr präzise vorstellen konnte. Dreimal mußte ich seine Mundpartie ausradieren, bis ich mich erinnerte, daß er einen ausgeprägt starken Unterkiefer hatte. Um so besser gelang mir das Stilleben mit Saftflasche, Teelöffel, Radio, Spray und Tropfen, Wecker und Ohrenstöpseln auf dem Nachttisch.
    Die Kinder schreckten mich auf. »Wer hat meine Kompost-Dinos geklaut?« fragte Jost entrüstet.
    Ich konnte nicht folgen.
    Daraufhin erklärte er mir, daß er für seine kleinen grünen Gummisaurier auf dem Komposthaufen ein Urweltreich gebaut habe. Alle seine Lieblinge seien verschwunden.
    Ich seufzte; das konnte nur Moritz, der kleine Teufel, gewesen sein.

Reiner Wein

    In meinen Träumen erleide ich gelegentlich den schlimmsten aller Unfälle: Ein Kind läuft mir vors Auto, ohne daß ich es verhindern kann. In der Realität habe ich noch nie ein Lebewesen überfahren. Im Gegenteil, kürzlich konnte ich eines retten. Mitten auf der Straße kauerte eine Katze und war derartig beschäftigt, daß sie seelenruhig verharrte, als sich mein Wagen näherte. Kurz bevor ich anhalten mußte, sprang sie auf und lief nach der linken Seite davon, nach rechts dagegen floh ein ungleich kleineres Tierchen, eine Maus. Den ganzen Tag über war ich in Hochstimmung, da ich es schon immer mit den Mäusen und nicht mit den Katzen gehalten hatte.
    Auch in jener angstbesetzten Situation, als ich weder der Freundin noch dem eigenen Mann trauen konnte, teilte ich die Menschen in Katz und Maus, Räuber und Opfer ein. Obwohl Udo ehemals selbst zu den Jägern gehört hatte, war er jetzt als Toter zu beklagen. Silvia und Reinhard betrachtete ich als Raubtiere, mich dagegen als deren Beute. Falls ich mich nicht wehrte.

    Zum gemeinsamen Frühstück stellte ich die frisch gekaufte, aber weitgehend geleerte Flasche mit Grapefruitsaft auf den Tisch. Ich konnte darauf vertrauen, daß die Kinder ihn nicht mögen würden. Wie so oft tauchte Reinhard hinter seiner Zeitung ab, er merkte daher nichts von dem ausgelegten Köder; doch als er sich eine weitere Tasse Kaffee einschenken wollte, entdeckte er plötzlich die Flasche, und ihm entfuhr ein schreckhaftes »Was'n das?«.
    Meine Antwort klang harmlos: »Obstsaft!«
    Reinhard ließ die Zeitung fallen. »Das sind ja ganz neue Sitten! Seit wann trinken wir Saft zum Frühstück?«
    Ich schien weiterhin nur am dünnflüssigen Honig interessiert, den ich vom Löffel auf mein Butterbrot träufelte. »Reg dich nicht auf, ich habe keinen Pfennig dafür ausgegeben. Diese Flasche lag im Mülleimer, dabei war sie noch gar nicht leer. Vitamine für die Kinder, habe ich gedacht...«
    Reinhard fuhr zusammen. »Haben sie etwa davon getrunken?«
    Ich zuckte mit den Achseln und leckte Honig vom Finger.
    Nun hielt es meinen Mann nicht mehr auf seinem Platz. Wo die Kinder hin seien, brüllte er.
    »Sie wollten ins Hallenbad«, sagte ich. »Die paar Tage bis zum Ferienende müssen sie noch auskosten.«
    Der geschockte Vater warf seine Tasse um und schüttelte mich. »Wie kann man so verantwortungslos sein und den Inhalt des Mülleimers auf den Eßtisch stellen! Willst du deine eigenen Kinder umbringen?«
    »Du hast wohl schlecht geschlafen«, sagte ich freundlich, »daß du so heftig reagierst. Die Kinder mögen diesen Saft nicht, er ist ihnen zu bitter. Aber mir schmeckt er!« Damit setzte ich die Flasche an den Mund und trank. Reinhard verhinderte es nicht, sah mir aber mit ungläubig geweiteten Augen zu. »Kriege ich endlich meinen Anteil der Zeitung?« fragte ich und stellte die leere Flasche auf den Boden.
    Zu seinen Gunsten nahm ich an, daß Reinhard Gewissensbisse hatte. Er lief in der Küche herum, beobachtete mich aus den Augenwinkeln heraus und konnte sich nicht zu einer Entscheidung durchringen. »Wieso hast du überhaupt diese Flasche aus dem Müll gefischt?« fragte er schließlich böse. »Vielleicht stammt sie von Nachbarn und...«
    Ich unterbrach ihn. »Aber Reinhard, du hast sie doch selbst in den Biomüll geworfen, und da gehört kein Glas hinein. Aber du mußt los, es ist spät für dich!«
    Bei Tieren, das wußte ich noch von meinem kurzen Biologiestudium, spricht man von Übersprunghandlung. Eine Vogelmutter, die eine Katze nahen sieht, wird von widersprüchlichen Instinkten gebeutelt - soll sie die Brut verteidigen oder sich selbst in Sicherheit bringen? Da dieser Konflikt nicht zu lösen ist, beginnt die arme Amsel, um überhaupt etwas zu

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