Röslein rot
schweigen. Hätte ich die Mirabellen doch lieber den Vögeln überlassen!
Beim Schrubben und Wischen wurde mir schlecht. Warum hatte ich den bitteren Saft nicht sofort wieder ausgespuckt? Dazu war es jetzt zu spät, oder nicht? Lucie hatte mir gestanden, daß sie sich häufig den Finger in den Hals steckte, um damit den Folgen eines allzu üppigen Essens vorzubeugen. Unter qualvollem Würgen brachte ich eine Mirabelle zum Vorschein. Klopfte mein Herz immer so heftig? War es Angst oder bereits das Vorzeichen meines baldigen Endes? Sollte ich zum Arzt laufen und mir den Magen auspumpen lassen?
Überhaupt - war alles nur Einbildung? Voller Zweifel an mir selbst und meinen wilden Phantasien beschwor ich mich, Ruhe zu bewahren und nicht unüberlegt zu handeln. Schließlich hatte unser eigener Hausarzt, zu dem ich seit Jahren volles Vertrauen hatte, Udo einen natürlichen Tod bestätigt. Ich versuchte es mit Übungen aus einem halb vergessenen autogenen Trainingsprogramm, kochte mir Kamillentee und beschloß, den verdächtigen Flascheninhalt analysieren zu lassen. Aber wo und mit welcher Begründung? Auf jeden Fall durfte das Corpus delicti nicht wieder in Reinhards Hände fallen.
Nach drei Tassen Tee ging es mir eigentlich wieder gut, schließlich hatte ich nur ein paar Tropfen Saft getrunken. Ich beschloß, einen Test zu machen: Die Originalflasche ließ ich zwar gut versteckt, aber eine identische wollte ich morgen zum Frühstück servieren.
Es war früher Nachmittag, Lara und Jost würden noch nicht so bald hungrig vom Schwimmen zurückkommen. Ich fuhr zum Einkaufen. Der Supermarkt war menschenleer, so daß ich schon von weitem Imke beim Gemüsestand entdeckte, wo sie Bananen abwog. Obwohl es ein warmer Tag war, trug sie lange Hosen und ihr weites graumeliertes Sweatshirt. Kurz entschlossen schob ich meinen Wagen neben den ihren: »Na, wie geht's denn, Imke?« fragte ich freundlich.
»Ganz gut«, war die Antwort, und sie sah mich wie stets zu lange an.
»Sind Sie in ärztlicher Behandlung?« fragte ich und hätte mir sofort auf die Zunge beißen können.
Aber sie reagierte gelassen: »Ich mache jetzt eine ambulante Therapie. Es ist wichtig, daß ich wieder arbeiten gehe.« Damit wandte sie sich der Waage zu, und ich verabschiedete mich.
Im Getränkeregal des Supermarkts fand ich die gleiche Sorte Grapefruitsaft, die Udo nachts zu trinken pflegte. Außerdem kaufte ich Scheuermittel, fünf Pfund Nudeln, Hackfleisch, Ketchup, Gouda, zwei Kilo Birnen und zwanzig Hefte für den bevorstehenden Schulanfang.
Vor unserem Haus verfrachtete Lucie gerade die kleine Eva in den Kindersitz ihres Autos, während Moritz im Vorgar ten giftigen Fingerhut abreißen wollte. Lucie erwischte ihn mit eisernem Griff, packte mir Evchen auf den Arm und sagte: »Es war keiner da, wir wollten schon wieder abdüsen! Ich habe vorhin mit Silvia telefoniert.«
Wir ließen uns im Garten nieder und behielten die Kinder im Auge. Silvia habe gesagt, sie brauche weder Hilfe noch Trost, der Tote sei bereits gegen Mittag abgeholt worden, die erforderlichen Papiere habe sie wohlgeordnet vorgefunden.
Wie immer steckte Lucie in schwarzer Kleidung - einem kurzen Rock mit knappem Blüschen. Eigentlich sah sie eher nach einer Witwe aus als heute früh Silvia in ihrem violetten Hemdblusenkleid. Nach den verleumderischen Worten, die ich erlauscht hatte, hatte ich wenig Lust, mit ihr in Kontakt zu treten.
Doch meine stets sozial denkende Freundin fragte: »Wie können wir helfen, Anne, was schlägst du vor?«
»Einen teuren Kranz schicken«, knurrte ich, und sie sah mich ganz erschrocken an. Was denn mit mir sei? Ich wirke so erschöpft.
Schnell fing ich die kleine Eva wieder ein, die zielstrebig zu ihrem Bruder auf den Komposthaufen krabbelte. »Ach Lucie, ich habe kaum geschlafen, weil ich die halbe Nacht auf Reinhard warten mußte. Dann ist mir ein Topf voll Mirabellen übergekocht. Die Beseitigung der Schweinerei hat mich Stunden gekostet und meine Laune nicht gerade gehoben!«
Lucie mußte lachen. Manche Tage seien verhext, konstatierte sie und sprang rasch dem dreijährigen Moritz nach, der seiner Schwester Erde in die Haare streute.
»Wie hältst du das mit vier Gören aus?« fragte ich. Die beiden Großen, die Gottfried mit ins Haus gebracht hatte - Kai und Gesa -, seien zum Glück pflegeleicht, Eva im Grunde auch, nur Moritz sei ein Teufel, ganz der Vater. Vorsichtig fragte ich, wer denn der geheimnisvolle Erzeuger sei.
Da vertraute mir
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