Rollende Steine
Zeitpunkt für gekom-
men hielt.
Jetzt setzte er sich auf und starrte an der Kerze vorbei ins Nichts.
»Sie hat sich an das Bad erinnert«, murmelte er. »Und sie weiß von
Dingen, die sie eigentlich gar nicht gesehen haben kann. Niemand hat ihr
etwas erzählt. Daraus folgt, daß sie sein Gedächtnis hat. Sie hat es von ihm geerbt .«
QUIEK, sagte der Rattentod. Nachts saß er häufig am Feuer.
»Als er zum letztenmal fortging, hörten die Leute plötzlich auf zu ster-
ben«, erinnerte sich Albert. »Das ist diesmal nicht der Fal . Und das
Pferd hat sie geholt. Das bedeutet, sie füllt das Loch.«
Er blickte in die Finsternis. Wenn er nervös wurde, begann er immer
zu kauen und zu saugen, als wol te er einen kleinen Brocken vom
Abendessen aus einem hohlen Zahn entfernen. Die Geräusche, die er
dabei verursachte, klangen nach einem Klempner, der versucht, einen
verstopften Abfluß in Ordnung zu bringen.
Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals jung gewesen zu sein. Es
mußte Jahrtausende zurückliegen. Er war jetzt neunundsiebzig, aber in
Tods Haus war die Zeit eine erneuerbare Ressource.
Vage entsann er sich, daß die Kindheit eine recht schwierige Phase sein
konnte, vor al em, wenn sie zu Ende ging. Dann gab’s Probleme mit
Pickeln, und diverse Körperteile entwickelten plötzlich ein sonderbares
Eigenleben. Wenn man dann außerdem auch noch für Tod einspringen
mußte…
Doch es ließ sich nicht vermeiden. Das war die ebenso unangenehme
wie unausweichliche Wahrheit. Es war unbedingt erforderlich, daß jemand Tod vertrat.
Auf den Grund dafür wurde bereits hingewiesen: Tod leistete einen
al gemeinen Dienst, keinen besonderen.
Ähnlich verhält es sich mit der Monarchie.
Wenn man als Untertan in einer Monarchie lebt, wird man vom Mon-
archen regiert. Die ganze Zeit über. Ob man wacht oder schläft. Womit
auch immer man gerade beschäftigt ist.
Es gehört zu den allgemeinen Bedingungen der Situation. Die Königin
muß nicht extra Hausbesuche machen, sich im bequemsten Sessel nie-
derlassen, Anspruch auf die Fernbedienung erheben und eine Tasse Tee
ordern. Al es passiert automatisch wie die Gravitation. Im Gegensatz zur
Gravitation wird al erdings ganz oben eine Person benötigt. Von ihr er-
wartet man nicht viel. Sie muß einfach nur dasein. Sie muß einfach nur
sein.
»Aber ausgerechnet sie ?« fragte Albert.
QUIEK.
»Bestimmt dreht sie schon bald durch. O ja. Man kann nicht gleichzei-
tig unsterblich und sterblich sein. Das zerreißt einen. Meine Güte, sie tut mir fast leid.«
QUIEK, pflichtete ihm der Rattentod bei.
»Und das ist noch nicht einmal das Schlimmste«, sagte Albert. »Warte
nur, bis sie sich auch an den Rest erinnert…«
QUIEK.
»Ja, genau.« Albert nickte. »Ich schlage vor, du beginnst sofort, ihn zu suchen.«
Susanne erwachte und wußte nicht, wie spät es war.
Auf dem Nachtschränkchen stand ein Wecker, denn Tod wußte, daß
solche Dinge auf Nachtschränkchen stehen sol ten. Geschmückt war er
mit Totenschädeln, Knochen und dem Omegazeichen. Außerdem funk-
tionierte er nicht. Keine der Uhren im Haus funktionierte, abgesehen
von dem speziellen Exemplar im Flur. Alle anderen litten sofort an De-
pressionen und blieben stehen. Oder die aufgezogenen Federn verloren
auf einen Schlag ihre Spannung.
Das Zimmer erweckte den Eindruck, als wäre gestern jemand ausgezo-
gen. Haarbürsten lagen auf der Frisierkommode neben einigen Schmink-
utensilien. An der Tür hing ein Morgenmantel mit einem Kaninchenbild
auf der Tasche. Es hätte viel eicht etwas hübscher ausgesehen, wenn es
kein Skelett gewesen wäre.
Susanne kramte in den Schubladen – sie nahm an, daß sie sich im
ehemaligen Zimmer ihrer Mutter aufhielt. Jede Menge Rosarot zeigte
sich den Blicken des Mädchens. Nun, sie hatte nichts gegen Rosarot an
sich, aber dieses hier überschritt die Grenzen des Tolerierbaren weit. Susanne entschied, ihre Internatskleidung anzuziehen.
Wichtig war jetzt vor allem, ruhig zu bleiben. Es gab für alles eine ver-
nünftige Erklärung, selbst wenn man sie erfinden mußte.
QUIEFF.
Der Rattentod landete auf der Frisierkommode, und seine kleinen
Kral en suchten nach Halt. Er nahm die Sense aus dem Maul.
»Ich glaube«, sagte Susanne vorsichtig, »ich würde jetzt gern heimkeh-
ren, danke.«
Die kleine Ratte nickte.
Sie sprang zum Rand des rosaroten Teppichs und eilte in den dunklen
Flur davon.
Als Susanne vom Teppich heruntertrat, blieb
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